Rezension (Kostproben)

AVENGERS: ENDGAME
Es geht um die Worscht!

Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei. Das ist zugegebenermaßen eine etwas komische Einleitung für die Rezension dieses Films, der mal wieder die Zuschauerzahlen an den Kinokassen sprengt: „Bestes Startwochenende“ „AVENGERS: ENDGAME bricht alle Rekorde“ „Weltweit 1,2 Milliarden US-Dollar eingespielt - und das nur am Startwochenende!“ Völlig Wurst - meine ich - denn die Massen sagen ja nichts über die Qualität aus, schließlich schaut diese undefinierbare Masse auch DSDS, GNTM, The Voice Kids, Dschungelcamp und anderen TV-Schund.
Alles hat ein Ende, aber in jedem Ende steckt auch ein Neuanfang. (Deshalb mag die Wurst zwar auch zwei Enden haben, sie landen trotzdem beide im Müll.) Wie dieser Neuanfang wohl aussehen wird, das verrät uns Marvel jedoch nicht.
Und ich muss auch höllisch aufpassen, nicht zu viel zu verraten. Denn heutzutage wird man schon im Kino verprügelt, wenn man - wie in Hongkong geschehen - vor dem Kinosaal das Ende des Film rausposaunt: Ein Mann hat dort anderen Besuchern das Ende des Films mitgeteilt. Wie das asiatische Online-Portal „asia-one“, auf das sich der Stern bezieht, berichtet, habe der Mann in der Eingangshalle eines Kinos in Hongkons Einkaufsviertel Causeway Bay die wichtigsten Handlungsstränge des vierten Teils der Superhelden-Saga lauthals gespoilert. Dem Bericht zufolge erteilten ihm daraufhin einige Kinogänger, die den neuen Blockbuster noch nicht gesehen hatten, eine Lektion. Sie griffen ihn tätlich an. Ein Bild, das nun im Netz die Runde macht, zeigt angeblich das mutmaßliche Opfer, wie er etwas derangiert und verletzt auf dem Boden am Kinoeingang sitzt. Wahnsinn! Und das nur wegen eines Films...
Ich werde mich also hüten, etwas auszuplaudern, und euch dennoch eine brauchbare Review präsentieren. Erstens: Den Film durchzieht ein Vaterkomplex nach dem anderen. Eigentlich ist der ganze Plot, die komplette Geschichte von einem Vater-Komplex geprägt. Thanos, der seine Tochter Gamora (nicht zu verwechseln mit der neapoletanischen Verbrecherorganisation Camorra) opferte, um den Seelenstein zu bekommen, ist der Inbegriff eines Tyrannen, der über Leichen geht, sogar der seiner eigenen Töchter, um an sein Ziel zu gelangen. Nebula wird sich dieser Tatsache im zweiten Teil der GUARDIANS OF THE GALAXY- bzw. im dritten Teil der AVENGERS-Reihe bewusst, und schließt sich den Superhelden an, um Thanos aufzuhalten. Dann gibt es natürlich auch die Spiderman-Iron-Man-Vater-Sohn-Geschichte, und damit den Typus des „Wahlvaters“. Zwar ist Peter Parker nicht wirklich Tony Starks Sohn, noch wird darüber im Entferntesten spekuliert, doch schwingt in dieser Konstellation stets Parkers Sehnsucht nach einem Vorbild und einer väterlichen Führungsfigur mit. Der Verlust seines jungen Schützlings, und dass er dagegen nichts ausrichten konnte, macht Stark sehr zu schaffen. Daneben wird ihm die einzigartige Chance zuteil, seinen eigenen Vater wiederzusehen. Endlich kann er mit ihm Frieden schließen und ihm sagen, dass er für das, was er ihm mit auf dem Weg gab, dankbar ist.  
Und schließlich gibt es noch den für alle Avengers als Vaterfigur dienenden S.H.I.E.L.D-Chef, den Patriarch Nick Fury. Fury ist ja quasi als Erfinder der Avengers für den Zusammenhalt der Truppe und für ihre Unversehrtheit zuständig. Naja, das hat nun nicht immer hunderprozentig hingehauen. Es gab auch öfter mal Zoff in seiner Elite-Einheit. Aber Fury ist (fast) immer zur Stelle, wenn’s brenzlig wird. So kann er in AVENGERS: INFINITY WAR im letzten Moment noch einen Sender aktivieren, um einen geheimnisvollen Kontakt zu alarmieren, bevor auch er sich in Luft auflöst. An wen diese geheime Botschaft gerichtet war, wissen Kenner bereits, ohne ENDGAME gesehen zu haben, wenn sie im vorangehenden Teil das Symbol von Captain Marvel auf dem Display zu sehen bekommen. Alle anderen erfahren es im Film.
 
„Die Legende sagt uns das Eine, die Geschichte das Andere. Aber von Zeit zu Zeit finden wir etwas, das zu beiden gehört.“
-- Nick Fury

Es gab selten in einem Action-Fantasy-Film so viele Helden und Heldinnen auf einmal. Und würde man ENDGAME dem Bechdel-Test unterziehen, dann würde die Frauenquote zumindest gar nicht so schlecht aussehen. Allerdings sind die starken, weiblichen Heldinnen immer noch unterrepräsentiert und nehmen wenig Raum im Geschehen ein. Sie interagieren zwar miteinander, und mit Romanoff, alias „Black Widow“, haben wir auch eine gelungene Indentifikationsfigur, doch das Zepter halten die männlichen Helden immer noch fest in der Hand.
Interessant ist dabei Thors Wandlung, die ich nicht weiter kommentieren darf - ihr wisst schon: Prügelgefahr… - die sich von den vorangehenden AVENGERS-Filmen stark abhebt. So habt ihr Thor noch nie gesehen! Aber er wird euch sehr bekannt vorkommen, der Dude…

Was ist also stark, was ist schwach an der wohl letzten Ausgabe der AVENGERS-Reihe (möglicherweise die letzte, vielleicht hat aber auch alles ein Ende nur AVENGERS zwei?): Die Vater-Sohn-Beziehungen und ihre verschiedenen Ausprägungen fand ich sehr interessant und auch gut in die Action-Story eingebettet. Und natürlich ist die Visualisierung des Ganzen, mittels CGI-Verfahren und mit IMAX-Kameras gedreht, tief beeindruckend. Die 3D-Version macht ENDGAME zu einem sensationellen Erlebnis. Aber auch die Dramaturgie spielt in dieser Fassung eine entscheidende Rolle. Stärker noch als in den vorangehenden AVENGERS-Filmen, waren die beiden Regisseure Anthony und Joe Russo sowie die Drehbuchautoren Christopher Markus und Stephen McFeely auf das Zwischenmenschliche bedacht. Mit ein paar weiblichen Kolleginnen wäre es vielleicht, unter Umständen, inhaltlich noch einen Tick besser ausgefallen. Ich hätte mir beispielsweise ein alternatives Finale gewünscht, in dem eine bestimmte Person, die wir aus dem Vorgängerfilm aus dem Marvel-Universum kennen, die entscheidende Tat vollbringt. Aber es geht ja immer nur um die Wurst… also, ich meine um das Männlichkeitsprinzip.

Zeitlich einzuordnen ist AVENGERS ENDGAME nach CAPTAIN MARVEL und vor SPIDER-MAN: FAR FROM HOME. Wir dürfen demnach gespannt sein, was Peter Parker dann zu bieten hat. Ein AVENGERS-Spin-Off, in dem es einzig und allein um „Black Widow“ gehen wird, ist auch schon geplant. Und man hat - oha, siehe da! - eine passende Regisseurin dafür finden können: die australische Filmemacherin Cate Shortland wird Scarlett Johansson in Szene setzen. Nach WONDER-WOMAN-Regiemeisterin Patty Jenkins ist sie die nächste Auserwählte, und hoffentlich nicht die letzte, die im Marvel-Universum das Zepter erhält. Mit kleinen Würstchen wollen sich die Frauen zurecht nicht mehr abspeisen lassen!



SYSTEMSPRENGER
Ein kleines blondes, burschikos wirkendes Mädchen steht im Innenhof eines Wohnheims, schreit sich die Seele aus dem Leib und wirft Gegenstände gegen die Scheibe, hinter der sich eine Gruppe Kinder und zwei Erzieher befinden. „Es ist Panzerglas, das kann nicht kaputtgehen“, sagt der eine, während die Bobbycars und andere Spielsachen weiterhin gegen die Scheibe wirbeln. Bis es doch reißt, das vor Gewalteinfluss vermeintlich schützende Glas. In dieser Szene wird deutlich, worum es in SYSTEMSPRENGER eigentlich geht: Ein Mädchen namens Bernadette, Benni genannt, das aus der Perspektive einer seelenlosen Leistungsgesellschaft scheinbar die „heile, geordnete, unzerstörbare Welt“ gefährdet, das „strukturierte System“ somit sprengt, wird als unheilbringendes Problemkind behandelt. Aber ist dieses System denn wirklich so perfekt? Hat es nicht schon längst aufgegeben? Hat es nicht bereits Risse und kann es uns denn überhaupt schützen, uns auffangen, Gefahren von uns abwenden, wenn es ihm nicht einmal bei einem Kind gelingt? 

Benni ist voller Blessuren und Verletzungen - äußerlich sichtbarer und (wie man gleich zu Beginn erahnen kann) tiefgehender, innerlicher, unsichtbarer. Zugleich ist sie nun wirklich kein einfaches Kind, lässt ihrer Wut freien Lauf, kennt keine Grenzen und ist wie ein Tsunami: unberechenbar von Null auf 100, wenn man sie provoziert, sie sich nicht ernstgenommen fühlt, oder wenn sie enttäuscht wird. Und Enttäuschungen gehören für die Neunjährige fast zum Alltag. Vor allem von ihrer Mutter wird Benni kontinuierlich fallengelassen, on tour enttäuscht und belogen; natürlich nicht mit Absicht, denn Bennis Mutter strauchelt selbst und scheitert in ihrem Leben, in einer Welt, die sich gnadenlos und unbarmherzig gegenüber individuellen Schwächen zeigt, die die Einzelne und ihre eigene Kraft, das eigene Vermögen nicht berücksichtigt. Die Mutter ist schlichtweg überfordert. Eigentlich alleinerziehende Mutter dreier Kinder, hat sie einen Mann an ihrer Seite, der sie nicht unterstützt, weder materiell noch emotional, sondern die Lage, in der sich das zerbrechliche Mikrokosmos namens Familie befindet, nur noch verschlimmert. Man weiß nichts Genaues über ihren Lebensgefährten, allerdings gibt uns Nora Fingscheidt, die mehrere Jahre für diesen Film recherchiert und vorbereitend Geschichten, Ereignisse und Erfahrungswerte gesammelt hat, einige Fragmente mit auf den Weg, die uns schweren Herzens vermuten lassen, was sich in den ersten Lebensjahren der kleinen Bernadette zugetragen haben mag. 

Ihre Traumata haben in Benni eine enorme, unkontrollierbare Wut erzeugt, aber auch Ängste hinterlassen: Vor Gegenständen und Berührungen in ihrem Gesicht, vor Hunden und insbesondere Verlassensängste. Sobald sich das Mädchen, das von einem Wohnheim zum nächsten und zum x-ten Mal in die psychiatrische Pflegestation gereicht wird, an eine neue Umgebung gewöhnt hat, sich auf bestimmte Personen stützen kann, weil sie Vertrauen zu ihnen gewinnt (was an sich nicht einfach ist in ihrer Situation), muss sie um einen weiteren Verlust, um eine weitere Trennung bangen. 

Wie man diese Szenen, die von Bennis schrillem Schrei nach Liebe, nach Zuverlässigkeit, nach einem Zuhause, nach Geborgenheit begleitet werden, ohne Tränenvergiessen erleben kann, ist mir schleierhaft. Der Film trifft den Nerv der Zeit. Er zeigt uns mittels filterlosen Nahaufnahmen, nahezu mikroskopisch, wie schmerzvoll diese ständigen Abweisungen sind und wie sie das Seelenheil eines Kindes dermaßen aus der Balance bringen können, dass wir selbst erschüttert sind und wie die Sozialarbeiterin Frau Befané fast vom Glauben abfallen, als sich keine praktikable Lösung für Bennis diffizile Situation zeigt. Man ist geneigt, selbst einzuschreiten, möchte das Kind in den Arm nehmen, ihr wieder Zuversicht schenken. Auch da sind Personen im Film, die dieses instinktive Verhalten in uns übernehmen: der Schulbegleiter Micha und die Pflegemutter Silvia. Doch selbst sie - eigentlich erfahrene und kompetene, zugleich auch herzliche und zuverlässige Menschen - gelangen bei Benni an ihre Grenzen. 

Bei Micha lernt Benni in einer Art „Survivaltraining“ das erste Mal was es heißt, konsequent zu sein, für seine Fehler einzustehen und sie zu korrigieren. Er nimmt sie für ein paar Wochen mit in eine Hütte im Wald, wo sie kleine Aufgaben erhält, die Benni nach anfänglichem Musterverhalten (schreien, fluchen, ausrasten) doch zur Zufriedenheit beider, ihrer selbst und Micha, meistert. Natürlich sind es erste, zaghafte Ansätze; vermutlich hätte Micha Jahre gebraucht, um eine nachhaltige Wirkung zu erzielen, um das getriggerte Verhalten des Mädchens zu korrigieren, um ihr zu helfen, ein glücklicher, ausgeglichener Mensch zu werden. Aber Micha hat sein eigenes Päckchen zu tragen und eine kleine Familie, um die er sich ebenfalls kümmern muss. Und Bennis Verlangen nach einem Menschen, der sich nur und ausschließlich ihr widmet, macht die Sache nicht einfacher - für alle Beteiligten. Aber ist es denn zu viel verlangt, einen einzigen Menschen für sich ganz alleine haben zu wollen? Das ist doch die Basis jeder gesunden Entwicklung, dass es jemanden gibt - ob Mutter, Vater oder eine andere Bezugsperson - die für uns da ist, dass wir die Gewissheit haben in den ersten Jahren unseres Lebens nicht auf uns selbst gestellt sein zu müssen, dass wir uns geborgen, geliebt und aufgenommen fühlen, dass wir nicht alleine auf dieser undurchschaubar-großen, weiten Welt sind. Stattdessen soll Benni in eine noch unbekanntere, weitaus größere, schutzlose Welt hinausgeschickt werden: nach Afrika! Manchmal möchte man auch vor lauter Ungerechtigkeit voller Inbrunst losschreien! 

Danke Nora, Albrecht, Gabriela, Lisa, Melanie und vor allem Helena für diesen absolut meisterhaft authentisch gespielten, ans Herz und an die Nieren gehenden Film! SYSTEMSPRENGER, für dessen Drehbuch Nora Fingscheidt bereits mehrfach ausgezeichnet wurde, ist mein Top-Favorit der 69. Berlinale.




SCHNEEFLÖCKCHEN
Zwei junge Männer in einer Kebap-Imbissbude. Sie sitzen am Schaufenstertresen und unterhalten sich über die Qualität der Speisen. Sind es Restauranttester? Sind es Beamte, die für den WKD - den Wirtschaftskontrolldienst - arbeiten? Überwachen sie die Lebensmittel oder sind es Kleinkriminelle, die den Laden aufmischen wollen, weil der Besitzer kein Schutzgeld zahlen möchte? Woher ich mich so gut auskenne? Gastronominkind. Family business. Italian Connection.
Aber zurück zur Geschichte: Die beiden sind nichts dergleichen. Nur zwei gute Freunde, die sich eine Mahlzeit genehmigen und in guter alter Tarantino-Manier ihre Fast-Food-Kenntnisse zum Besten geben.


Zwischen den Zeilen verbergen sich jedoch wichtige Informationen, die dem Laien entgehen, weil er sich nur mit dem Offensichtlichen beschäftigt. PULP FICTION war auch ziemlich offensichtlich eine Inspiration für das Team hinter SCHNEEFLÖCKCHEN; aber eigentlich erwähnte Drehbuchautor Arend Remmers im exklusiven Interview mit Regisseur Adolfo Kolmerer, Produzent Eric Sonnenburg und meiner Wenigkeit andere Anleihen. Zum Beispiel bei Scorsese.


Auch in GOODFELLAS liegen Mord und Totschlag und das leibliche Wohl nah beieinander. Warum das so ist? Auf leerem Magen lässt es sich weder gut Verbrechen verdauen, noch welche ausführen. Das weiß man doch!
Nun sitzen unsere Helden also in diesem Kebapladen, streiten um den Geschmack des Döners und werden bald darauf ein Drehbuch in den Händen halten, das just dieses Gespräch Wort für Wort wiedergibt. Und nicht nur das. Es scheint jeden einzelnen Schritt der beiden vorauszusehen.


Ihr werdet im Verlauf dieser einzigartigen Gangsterkomödie auch den Verfasser des Drehbuchs im Film kennenlernen, so viel darf ich euch verraten, wenn ihr den Film SCHNEEFLÖCKCHEN noch nicht kennen solltet. Und wenn ihr genau lauscht, dann fällt euch in der orginellen Filmmusik, die von Roman Fleischer komponiert wurde, die transportierte Grundstimmung der Geschichte auf, die mehrere Dimensionen in sich vereint.
Wie Komponist Roman Fleischer hängten sich alle Beteiligten mächtig für das Debüt ihres Leinwandwerks ins Zeug. Was sich letztendlich total ausgezahlt hat: Best Feature Film beim Horrible Imaginings Film Festival 2018 in San Diego Kalifornien, Best Actors für das Duo Reza Brojerdi und Erkan Acar, ebenfalls beim HIFF; ausgezeichnet wurde der Film in San Diego auch für die Spezialeffekte und für die Regie. Beim Macabro Film Festival gewann SNOWFLAKE, wie der internationale Titel heißt, den Publikumspreis, beim Negative Fest in Florida ging der Preis für die Beste Regie an Adolfo  Kolmerer und William James. Der Film erhielt zudem den Méliès D’Argent als Bester Europäischer Fantastischer Spielfilm beim Lund Fantastik Film Festival 2017. Daneben feierten Publikum und Fachbesucher den Genrefilm bei der Premiere am 18. August 2018 in Berlin und bei den Vorpremieren und Previews im Rahmen der Genrenale in Berlin und beim Fantasy Filmfest in Stuttgart, Frankfurt, Berlin, München, Hamburg, Köln und Nürnberg. Dann kam SCHNEEFLÖCKCHEN in ausgewählten Kinos der Region. Der offizielle, bundesweite Kinostart, der als Pilotprojekt vom Online-Dienst „Film.Demand“ realisiert wurde, fand am 20. September 2018 statt.
Schön und gut. Aber was ist es denn, das diesen Film zu etwas so Besonderem macht? Und warum erwähne ich ihn jetzt erst? Erstens: Ich habe ihn natürlich bereits im vergangenen Jahr in meiner Sendung vorgestellt. Zweitens: Ich möchte den Kontrast zwischen einem gelungenen Genrefilm (SCHNEEFLÖCKCHEN) und einem misslungenen Versuch (DER GOLDENE HANDSCHUH, siehe unten) verdeutlichen. Und drittens - warum ist dieser Film gelungen? Die Mischung macht’s! Es ist ein Thriller mit Horrorelmenten, eine schwarze Komödie mit Tiefgang und auch in gewisser Hinsicht eine Milieustudie.
Nach dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenbruch herrscht Anarchie auf den Straßen Berlins, irgendwann in einer ziemlich nahen Zukunft. Zwei gesetzlose junge Männer suchen einen korrupten Polizeipräsidenten, der Anführer einer faschistischen Untergrundorganisation ist. Das sind die Freunde Tan und Javid. Die zwei charmanten, sympathischen Antihelden, die von Erkan Acar und Reza Brojerdi gespielt werden, kommen sich bald nicht nur wie im falschen Film vor, sondern wie im grottenschlechten Drehbuch und sie treffen dabei auf verschiedene andere skurrile Personen, die sich, wie die beiden, auf einem Rachefeldzug befinden. Ein bitterböser Film über das verhängnisvolle Verlangen, es jemandem heimzuzahlen, und welche weiteren Kreise dies nach sich zieht - das ist SCHNEEFLÖCKCHEN.
Dabei ist der Titel absichtlich so harmlos, arglos, scheu und unschuldig gewählt. Quasi als Paradoxon, und nicht um uns auf die falsche Fährte zu locken - schließlich wissen wir allein beim Anblick des Posters und des DVD-Covers, was uns erwartet.
"Schneeweißchen oder Rosenrot,
warum schlägst du den Freier tot?“

Nein, es geht darum, ein Kinderlied ("Schneeflöckchen, Weißröckchen, wann kommst du geschneit..") aufzugreifen, die Nähe zum Grimmschen Märchen „Schneeweißchen und Rosenrot“ herzustellen und darin die makabersten Szenen, die krassesten Rache-Moves, aber auch die kongenial verschachtelte Geschichte mit mehreren Erzählsträngen zu verorten. Intelligenter, spannender und gemeiner könnte man es gar nicht inszenieren. Wer trashigen Splatter mag, wird hier umsonst suchen. Es geht nicht um Effekthascherei (Gewalt und Kunstblut sind lediglich Teil-Komponenten), sondern um eine Krimigeschichte, die in mehreren Ebenen verläuft: Da ist zum einen die Jagd der beiden Hauptcharaktere Tan und Javid auf den Nazi-Kopf namens Winter, die sich unerwartet kompliziert darstellt als Tans trivialer Streit mit dem Koch einer Imbissbude über den Geschmack seines Döners zu einer blutigen Schießerei eskaliert. Damit werden sie selbst zu Gejagten von Jana und ihren Auftragskillern, darunter auch zwei Hobby-Kannibalen. Tja, Karma ist eine Bitch. Oder ein Engel. Wer weiß das schon so genau? Es entsteht ein Teufelskreis aus Rache und Gewalt, der den Sinn von Tans und Javids persönlichen Suche nach Vergeltung infrage stellt. Das alles passiert in einer überspitzten Realität, die bei genauerem Hinsehen gar nicht so unrealistisch erscheint und vielleicht mehr Wahrheiten in sich birgt, als uns lieb ist. Wir sind mitten im Berliner Winter 2015, das Erstarken der Pegida-Bewegung und der AfD wird spürbar. Tans und Javids Kindheitserinnerungen bilden eine weitere Ebene und Schnittstelle zu den rassistischen, fremdenfeindlichen Ereignissen der 90er Jahre, die auf unsere heutige Situation verweisen. Wie kann ein Drehbuch derart authentisch sein, dass es aktuelle Momentaufnahmen einfängt? Womöglich steckt der Teufel dahinter, es könnte aber auch Gott sein - ein etwas sadistisch angehauchter Gott, aber das wäre nichts Neues in der Filmgeschichte.
Wo bleibt bei dem Ganzen apokalyptischen Spektakel die Hoffnung? Irgendwann kommt sie geschneit. Vielleicht wenn die Gewaltspirale durchbrochen wird, und sich unsere Protagonisten darauf besinnen, was wirklich wichtig ist: mit sich selbst im Reinen zu sein, vielleicht.
Ein „wilder Trip“ durch die Kinogeschichte und eine einzigartige Erzählweise, die uns baff zurücklässt, das ist SCHNEEFLÖCKCHEN. Wir fallen in den Sitz, schütteln uns regelrecht, um nach diesem irrwitzigen (Alb-)traum wieder zu uns zu kommen. Und wir schwören uns in diesem Augenblick eins: diesen Film unbedingt noch einmal zu sehen!
SCHNEEFLÖCKCHEN ist eine unabhängige deutsche Filmproduktion der Berliner Independent Filmproduzenten Adrian Topol, Reza Brojerdi und Erkan Acar, sowie Creative Producer Eric Sonnenburg, Autor Arend Remmers und Regisseur Adolfo Kolmerer. Für die Produktion haben die Produzenten eigens die Schneeflöckchen GmbH gegründet. Ausführende Produktionsfirma ist die Lopta GmbH aus Berlin. Mit an Bord sind der bekannte Darsteller Gedeon Burkhard (alias Winter) und Comedian Alexander Schubert als Drehbuchautor, Schauspielerin Xenia Assenza als Jana, die Akteure Sven Martinek, Angela Hobrig, Eskindir Tesfay, Mathis Landwehr, David Gant, Judith Hoersch als Engel, David Masterson, Selam Tadese und viele mehr. Verzeiht, wenn ich euch nicht alle namentlich genannt habe - ihr seid alle geil! Ich freue mich schon auf den nächsten wilden Ritt.



DER GOLDENE HANDSCHUH
Was so romantisch klingt ist der Titel des neuen Films von Fatih Akin, und dass es ein Horror-Thriller sein würde, weiß man als filminteressierte Person nicht nur seit Bekanntgabe des Drehbeginns, sondern auch wenn man Heinz Strunks Romanvorlage kennt. 

Nun sitzt man also schon etwas vorbereitet im Kino, und ist gespannt auf die Verfilmung dieses schwer verfilmbaren und vor allem schwer verdaulichen Stoffs. Weil man die bisherigen Arbeiten des Regisseurs kennt und mag, schickt man dem Film einen Sympathiepunkt voraus. Der sich aber bereits in den ersten Sekunden Laufzeit in Luft auflöst. Warum? Ich darf nur so viel verraten: es wird an filmischen Möglichkeiten nicht gegeizt, um die Brutalität der Serienmörders Fritz Honka detailgetreu darzustellen. Dieser Mensch, der sich gerne in der Kiez-Kneipe "Zum goldenen Handschuh" einfand, um seinen Lieblingsbeschäftigungen nachzugehen: Saufen und irgendwelche gestrandeten Frauen abzuschleppen, existierte wirklich. Und das macht die Dramatik dieser unglaublichen Taten erst aus. Gäbe es dieses Vorwissen nicht, würde man denken, es handle sich um eine Horrorkomödie, die zwar äußerst unappetitlich daherkommt, aber die Absurdität des Ganzen, dieses skurrile Kammerspielartige würde die Geschmacklosigkeit wieder ausgleichen. Nope. Keine Übertreibung, keine Überzeichnung. Soweit die Recherchen von Strunk stimmen, auf die sich Akins Film beziehen - immerhin wird sein mit dem Wilhelm-Raabe-Literaturpreis ausgezeichnetes Buch als Tatsachenroman deklariert -, müsste sich wohl alles ziemlich genauso zugetragen haben. Und das ist ganz schön starker, wenn nicht gar krassester Tobak! 

Wir schreiben das Jahr 1974. Der alkoholsüchtige, gebürtige Leipziger Fritz Honka bewohnt eine kitschig-nostalgisch eingerichtete Mansardenwohnung, unweit seiner Lieblingskneipe im Stadtteil Hamburg-St. Pauli - der Amüsiermeile für Nachtgestalten, Trinker und Prostituierte. Hier versammeln sich die einsamen Seelen und weinen sich ihren Lebensfrust und ihren Kummer vom Leib. Honka ist ein unansehnlicher Kerl, mit dem auch eine Kiez-Hure wie die freche Ruth nichts zu tun haben will. Doch der Hilfsarbeiter hat Glück und die ältere, einsame, verwahrloste Gespielin Gerda begleitet ihn eines Abends in seine Wohnung. Was Gerda zu diesem Zeitpunkt nicht ahnt: in dieser übel riechenden, dreckigen Absteige geschehen ungeheuerliche, an Grausamkeit kaum zu überbietende Dinge... 

Was mich am meisten an dem Film DER GOLDENE HANDSCHUH stört ist die Tatsache, dass ihn Fatih gedreht hat. Anderen hätte ich vielleicht solchen Schmu verziehen, nicht dem deutsch-türkischen Starregisseur, dem Macher solcher wunderbaren Filme wie SOLINO, GEGEN DIE WAND und AUS DEM NICHTS. Ärgerlich und ganz schwierig zu behandeln ist der Fakt, dass die Frauen keinesfalls würdevoll rüberkommen. Man ist als Zuschauerin von Honka und seinen Opfern gleichermaßen angewidert und empfindet nur Ekel bei all den expliziten Szenen. Es geht nicht darum, die Tatsachen zu verschönern. Aber mit einem Kunstgriff, der mir beim Sichten des Films sofort in den Sinn kam, hätte man das Problem der würdelosen Darstellungen zumindest minimieren können, man hätte damit die weiblichen Opfer nicht derart bloßgestellt: Ich dachte unmittelbar an Tom Tykwers LOLA RENNT-Szenen, in denen die Lebensgeschichten der angerempelten Personen mittels nacheinander gezeigter Bilder erzählt wurden.

Andererseits gibt es nicht wirklich viel zu retten an diesem Film, in dem die Jung-Darsteller Tristan Göbel und Greta Sophie Schmidt, sowie Adam Bousdoukos - der zufälligerweise als Kleinkind mit seiner Familie im gleichen Mietshaus wie Honka wohnte, und somit seinem langjährigen Freund Fatih davon erzählen konnte - hineinkatapultiert werden, als seien sie aus Zeit und Raum gefallene Fremde in einem ihnen unbekannten Universum. Worin wir Zuschauer ihnen nicht unähnlich sind. Genauso aus Zeit und Raum gefallen und überhaupt nicht in Akins bisherigem Werk einzuordnen ist dieser Trash-Horror, der absolut unüblich für den Vorzeige-Regisseur ist. Was natürlich durchaus legitim sein kann, schließlich ist nicht jeder ein Tarantino, dessen Filme eine rote Linie zeichnen, an der man seine Handschrift überaus deutlich erkennen kann. Das gilt für Fatih nicht. Er probiert gerne Neues aus, und experimentieren wird ja wohl noch erlaubt sein. Aber gleich so?

Immerhin hat er es selbst zugegeben: Er wollte auch mal einen deutschen Genrefilm machen! Verständlich, aber der Versuch ist so ziemlich in die Hose gegangen, "bro"! Bedank dich bei deinem griechischen Kumpel, Adam, und sag ihm nächstes Mal, wenn er wieder eine "tolle" Geschichte für einen Film an dich heranträgt: Kali nix da!



COLD WAR - DER BREITENGRAD DER LIEBE
Um ganz ehrlich zu sein: Bei derart Filmen besteht bei mir immer die Gefahr eines Schlummerzustands im Kino. Ich denke dann meistens: Hauptsache „Filmkunst“ - weckt mich, wenn’s vorbei ist! Das ist auch der erste Eindruck bei COLD WAR - DER BREITENGRAD DER LIEBE gewesen, der sich leider nicht widerlegen ließ: Die Geschichte handelt von einer unmöglichen Liebe und greift dabei auf Klischees und Stereotypen, die sich in Dialogen wie diesen entladen:
„Warst du bei einer Hure?“ „Ich habe kein Geld für Huren. Ich war mit der Frau meines Lebens zusammen!“ Oh ja, das sind die Art Komplimente, die man als Frau auf jeden Fall hören will.

Während des polnischen Wiederaufbaus, in den Zeiten des Kalten Krieges, ist der begabte Komponist Viktor auf der Suche nach traditionellen Melodien für ein neues Tanz- und Musik-Ensemble. Dem Kulturleben seines Landes möchte er so frisches Leben einhauchen. Unter seinen Studentinnen ist auch die Sängerin Zula; gleich im ersten Augenblick elektrisiert sie Viktor. Schön, hinreißend und energiegeladen ist Zula schon bald der Mittelpunkt des Ensembles und die beiden verlieben sich ineinander. Es ist eine selbstzerstörerische Beziehung, die sie ausleben, und die über ein Jahrzehnt anhält.

Immerhin ist es Regisseur Pawel Pawlikowski, der mit IDA im Jahr 2015 den Auslandsoscar nach Polen holte, gelungen, mit seiner irgendwie tragischen, eher wenig überzeugenden Liebesgeschichte erneut als Oscaranwärter gehandelt zu werden. Bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes wurde er zumindest für COLD WAR mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet. Was man natürlich auch differenziert betrachten muss: in den Gremien sitzen nicht selten hochbetagte Herren, denen wenig Dialoge, etwas Gewalt an Frauen (natürlich, die stehen ja drauf!), etwas Jazz (als Alibi), Schwarz-Weiß-Bilder (alles wegen der Kunst) und die Nachkriegsatmosphäre (weil man das quasi noch selbst erlebt hat) gepaart mit der melancholischen Stimmung, die sich an DER LETZTE TANGO IN PARIS anlehnt, aber selbst an diesen Rape-Film nicht ranzukommen vermag, sehr zusagen. Eine Protagonistin wie Joanna Kulig lässt dann auch die Herzen der maskulinen Zuschauerschaft höher schlagen. Verübeln kann man es denn Kerlen natürlich nicht. Aber gleich einen zweiten CASABLANCA daraus zu machen?
Welche Parallelen könnte man da ziehen? Weder stilistisch, noch inhaltlich gibt COLD WAR etwas her, was uns an Michael Curtiz’ Meisterwerk AS TIME GOES BY erinnern könnte. Es ist wie mit den unvergleichbaren Birnen und den Äpfeln, wobei COLD WAR schon eher als Fallobst bezeichnet werden kann: Trübe Stimmung, laue Geschichte und ungefähr so viel Leidenschaft wie die alljährliche Steuererklärung. Der sogenannte „Breitengrad der Liebe“ ist bei diesem Film die Umlaufbahn einer verdorrten Erbse.
Natürlich ist das meine subjektive Meinung. Interpretieren soll der Zuschauer das Werk am besten selbst. Zumindest darin sind der Regisseur und ich uns einig: „Ich glaube nicht“, meint Pawlikowski, dessen Film an die Liebesgeschichte seiner inzwischen verstorbenen Eltern angelehnt sei, „dass es im Film - oder in der Kunst überhaupt - um Erklärungen geht. Es funktioniert eher wie eine Serie von Elektroschocks, von starken Emotionen, denen das Gehirn folgen muss.“
Echt, muss es? Nö, danke - da fliege ich doch lieber über das Kuckucksnest...



BE NATURAL - THE UNTOLD STORY OF ALICE GUY-BLACHÉ
Sie war erst 23 Jahre jung, aber eine Filmpionierin, über die jahrehundertelang nahezu geschwiegen wurde. Man kennt die Lumières, George Méliès, die Brüder Skladanowsky, Oskar Messter, natürlich auch Thomas Edison, aber die wenigsten wissen, dass Alice Guy-Blaché die allererste Filmemacherin war, die ihren ersten Film im Jahr 1896 drehte. Sie schrieb, filmte und produzierte weit über 1.000 Filme.
Als Pamela Green und Jarik van Sluijs von Alice Guy-Blachés tragischem Leben erfuhren, empfanden sie es als gesellschaftliche Notwendigkeit, die Geschichtsschreibung geradezubiegen. Eine akribische Forschung entstand, die in einer einzigartigen Biopic mündete, die uns ergreift, an die Leinwand bannt und die auch für die wahren Cineastinnen unter uns, die Kennerinnen von Alice Guy-Blaché, noch manche erstaunliche Informationen und Hintergründe über diese Ausnahmekünstlerin und Pionierin des 20. und 21. Jahrhunderts bereit hält. Jodie Foster verlieh der Erzählerin dieser Dokumentation über die einstige, wenig ruhmreiche Alice ihre Stimme in BE NATURAL - THE UNTOLD STORY OF ALICE GUY-BLACHÉ.
Wir schreiben das Jahr 1895. Eine neue Technologie namens „mechanischer Stift“ ist patentiert. Der erste Comic-Streifen wird in einer Zeitung gedruckt, und die Fotografie ist das Gesprächsthema. Das ist der Beginn der Neuzeit, und es gibt keine Grenzen für das, was die Zukunft bereithält. Wichtige Innovationen in der Technologie verändern die Art und Weise, wie Menschen leben, arbeiten, reisen, sich kleiden, kommunizieren und wie sie sich unterhalten. In Paris haben die Lumière-Brüder eine ihrer ersten privaten Vorführungen mit ihrer revolutionären Kinematographie, dem ersten zuverlässigen System, das bewegte Bilder projiziert. Eine kleine Gruppe von Freunden und Kollegen, darunter der Ingenieur und Industrielle Léon Gaumont, sieht ehrfürchtig die berühmten Filmaufnahmen von Arbeitern, die eine Fabrik verlassen. Das Kino ist geboren.

Im Publikum sitzt eine junge Frau. Ihr Name ist Alice. Sie ist 23. Sie ist die Sekretärin von Léon Gaumont. Sie erlebt das Spiel von Licht und Schatten der fließenden Bildfolge auf der Leinwand mehr als ein lediglich technologisches Wunder. Sie sieht das Leben. Sie sieht Geschichten. Sie sieht die Zukunft. Alice Guy (nach ihrer Ehe als Madame Blaché und nach ihrer Scheidung als Alice Guy-Blaché bekannt) machte einen der ersten Erzählfilme überhaupt. Nach eigener Darstellung schaffte sie es 1896 (manche sagen vor George Méliès). Und sie machte weiter. Sie drehte einen der ersten Filme überhaupt mit Nahaufnahmen, schuf bereits 1902 synchronisierte Tonfilme, war zum großen Teil verantwortlich für die Entstehung und das Wachstum des Gaumont-Filmstudios in Paris, das sie fast ein Jahrzehnt lang, von 1897 bis 1907, leitete. Sie gründete und leitete ihr eigenes Studio, Solax, zuerst in Flushing, New York, dann in Fort Lee, New Jersey - nicht weit von der Stelle, wo Edison und D.W. Griffith arbeiteten. Sie war Ehefrau und Mutter. Über ihre 20-jährige Karriere schrieb, inszenierte oder produzierte sie mehr als 1.000 Filme. 
Dann endete alles und es wurde plötzlich still um sie. Ihr Name verschwand aus der Filmgeschichte, und ihr Vermächtnis verschwand im Schatten.
Eine Pionierin in der Filmindustrie Frankreichs und der USA, eine innovative Filmemacherin mit einer Karriere die von 1896 bis 1920 anhielt, eine Regisseurin, Drehbuchautorin, Produzentin, Studiobesitzerin, CEO, Unternehmerin, sowie Ehefrau und Mutter. Hätte sie nur einen dieser Berufe in den frühen Jahren des Films als Mann ergriffen, hätte es gereicht, ihr einen festen Platz in der Kinogeschichte zu verschaffen.

BE NATURAL - THE UNTOLD STORY OF ALICE GUY-BLACHÉ geht der Frage nach, wie eine für das Kino so bedeutsame Frau, die allererste Filmemacherin überhaupt und mächtige, vielseitige Person in der Filmbranche, so unbekannt bleiben konnte. Pamela Green und Jarik van Sluijs machten sich auf die Spurensuche - eine echte Detektivgeschichte, wie sich bald herausstellte. Nach zwei Jahren der Forschung an Alice’s Leben und Wirken, die die beiden Dokumentaristen an die entlegensten Orte der Welt brachte, wurden sie fündig: Interviews mit Alice in Papierform und Original-Audioaufnahmen, alte 8-Millimeter-Aufnahmen, Fotos, Notizbücher, Briefe und viele Dokumente mehr, die etwas Licht ins Dunkel brachten. Je mehr sie danach suchten, wie Goldgräber nach einem Schatz, desto mehr fanden sie. Es war, als ob die „UNERZÄHLTE GESCHICHTE DER ALICE GUY-BLACHÉ“ endlich erzählt werden wollte.

Die frühen Filmemacher waren Entdecker. Wie Columbus musste Alice durch viele Unbekannte navigieren, doch dank ihrer Experimentierfreude, Entschlossenheit und Vision erreichte sie neue Ufer. Was hat sie dazu gemacht, wer sie war? Was sie trieb sie an, inspirierte sie, was war der Motor für ihre Fantasie? Und was oder wer hat sie aus der Geschichte verschwinden lassen? Und vor allem, warum?
Es war eine spannende Ära und Alice Guy-Blaché war eine ihrer kreativsten Kräfte. Für Alice waren die Kamera, der Film, der Projektor und das Chronophone-Soundsystem neue Technologien, die es zu ergründen galt, für deren Verwendung noch keine Regeln geschrieben wurden. Für uns, Zeugen der digitalen Bildbearbeitung und -wiedergabe, samt YouTube, Instagram, Vine und vielen anderen technischen Möglichkeiten - werden diese Regeln weiterhin neu geschrieben.
Was bedeutete es, Ende des 19. Jahrhunderts mit wegweisenden Technologien zu arbeiten? Was bedeutet es heute, mit wegweisenden Technologien des 21. Jh. zu arbeiten? Was können wir von dieser Filmpionierin lernen, wenn sie neue Wege fand, um neue Geschichten visuell zu erzählen? Über 100 Jahre später stehen wir erneut an der Schwelle - wir setzen uns mit dem rasanten Wandel auseinander und stellen uns den gleichen Herausforderungen. BE NATURAL ist ein sowohl gesellschaftlich großartiger als auch ein intimer, persönlicher Blick auf eine herausragende Persönlichkeit. Das gefundene Material ermöglicht es, ihre Geschichte durch ihre eigenen Worte zu erzählen. Stellt euch vor, sie wurde geboren, bevor es elektrisches Licht gab; sie durchlebte zwei Weltkriege, sah die Erfindung des Fernsehens und starb im Jahr 1968 in New Jersey, während die USA im Krieg mit Vietnam stand.



EINGEIMPFT - FAMILIE MIT NEBENWIRKUNGEN
Kinderkriegen, Elternwerden und Elternsein ist eines der natürlichsten Dinge der Welt, aber auch eine der größten Herausforderungen im Leben eines Menschen. Bei manchen, zumindest den Verantwortungsbewussten unter uns, fängt das „Sich-Sorgen“ bereits in der Schwangerschaft an: Wird das Kind gesund sein? Werde ich die Geburt gut meistern? Werden wir gute Eltern sein? Wo soll das Kind geboren werden - im Geburtshaus oder im Krankenhaus? Oder soll es doch lieber eine Hausgeburt werden? Wie lange werde ich pausieren können? Wird mir der Arbeitgeber den Rücken freihalten? Und wenn das Kind da ist - auf was muss ich dann alles achten…? Unmittelbar darauf kommt die unweigerliche Frage nach dem Impfen: Nach nur wenigen Wochen der neu entstandenen Familiendylle warf auch im Hause Sieveking / de Rooij dieser Umstand einen kleinen Schatten auf die ansonsten heile Welt, die dank Töchterchen Zaria noch schöner, noch vollkommener wurde. Das kerngesunde kleine Mädchen sollte geimpft werden und zwar gleich gegen acht verschiedene Krankheiten. Jessica, die Mutter, war aufgrund ihrer schlechten Erfahrung mit dem Impfen dagegen. Sie hatte Angst vor Nebenwirkungen oder gar einem Impfschaden, während sich David viel mehr um die drohenden Krankheiten sorgte. Obwohl die meisten gefährlichen Seuchen und Empidemien bei uns mittlerweile ausgerottet sind.
Jessicas Unbehagen brachte David dazu, sich intensiv mit etwas auseinanderzusetzen, das für ihn zuvor nie ein Thema gewesen war: Impfen hielt er immer für so selbstverständlich wie Zähneputzen. Um die Harmonie innerhalb der Familie zu wahren beschließt er, das Problem auf professionelle Weise anzugehen: Er betreibt eine umfangreiche Recherchearbeit, die ihn sogar bis nach Westafrika führt.

Nach seinem herausragenden Erstlingswerk DAVID WANTS TO FLY, kam der Kino-Erfolg VERGISS MEIN NICHT, wo David erneut einen autobiografischen Dokumentarfilm, diesmal über seine an Demenz erkrankte Mutter, drehte. Filme zu drehen, die eine persönliche Geschichte erzählen und dabei Denkanstöße zu liefern, die das Interesse aller wecken, das ist Davids Stärke; doch das kann heutzutage schon reichen, um einen Shitstorm - auf Deutsch: eine Flut an Hasskommentaren - auszulösen. Jüngst erlebt habe ich diesen Kacksturm, pardon, diese Masse an nicht-konstruktiver Kritik beim hinreissenden, lustigen, hoch-informativen, und in guter alter Sieveking-Manier gemachten, persönlichen Dokumentarfilm EINGEIMPFT - FAMILIE MIT NEBENWIRKUNGEN. Die meisten dieser KritikerInnen und Kritiker im Netz, die sich vorzugsweise in den sozialen Medien tummeln, hatten den Film noch nicht einmal gesehen, denn zwar war der offizielle Starttermin, nach einigen Vorpremieren in Berlin, Frankfurt und Köln, am 13. September, aber zu sehen ist EINGEIMPFT in vielen Kinos erst seit dem 20. September. Parallel zum Kinostart erschien noch sein Buch, in dem Filmemacher und Autor David Sieveking die Hintergründe der Filmhandlung beleuchtet.
Die Vorführung im Friedrichsbau in Freiburg, in Anwesenheit des Regisseurs und eines Experten, Herrn Professor Dr. Philipp Henneke von der Uniklinik Freiburg, versprach daher hochbrisant und ultraspannend zu werden.
Das Thema „Impfen“ erregt schon seit jeher die Gemüter, es ist also nicht neu, dass es immer wieder zu hitzigen Diskussionen zwischen Impfgegnern und -befürwortern kommt. Dabei geht es auch um Interessenkollision, denn die Pharmaindustrie möchte natürlich an ihren Gewinnen festhalten, Institute und Labore möchten weder Ruf noch Aufträge verlieren, und Ärzte und einzelne Forscher möchten in kein Gewissenskonflikt geraten, sondern möglichst unbedenkliche Maßnahmen ergreifen, die sie mit reinem Gewissen verantworten können. Was Herr Prof. Henneke mitzuteilen hatte, war zum einen, dass er den Film für unbrauchbar hielt, um Eltern fundiert in Sachen Impfungen zu informieren und zu beraten. Da seien viele Dinge genannt worden, die aber weder weiterrecherchiert, noch zur Genüge betrachtet und analysiert worden wären. Das Thema Aluminium in Impfstoffen, zum Beispiel, und der im Raum stehende Zusammenhang mit Sterbefällen, der nicht bestätigt werden könne. Was er jedoch David vorwirft ist, dass er Populärwissenschaft betreibt - hochkomplexe Themen, wie das Impfen, können man nicht auf einen einfachen Nenner runterbrechen. Aber was tun Ärzte, wenn man sie diesbezüglich um Rat fragt? Ich kann mich als zweifache Mutter nicht entsinnen, von meinen Kinderärzten in Frankfurt einen wissenschaftlichen Vortrag über das Impfen erhalten zu haben. Natürlich gab es Infoabende dazu, und es wurde der Versuch unternommen, die anwesende Elternschaft - alle können ja aufgrund fehlender Kinderbetreuung, unterschiedlicher Arbeitszeiten usw. nicht erreicht werden - hinreichend aufzuklären. Aber auch das war keine wissenschaftliche Abhandlung. Also was genau wollen Professoren wie Herr Henneke mit ihrer Kritik erreichen? Fakten und Zahlen, Evidenz und über ein Jahrhundert währende Erfahrungswerte stünden den Einzelmeinungen im Film entgegen. Dabei propagiert EINGEIMPFT wenn überhaupt dann eine bewusste Haltung, in der es darum geht, nach genauerer Betrachtung der STIKO-Impfempfehlungen eine mit der eigenen Lebenswelt einhergehende und passende Form der Impfung zu wählen. Der Film spricht die Notwendigkeit des Impfens niemals ab, im Gegenteil zeigt David im Film auch die desaströsen Krankheitsverläufe bei unbehandelten Kindern; er erteilt auch keine Ratschläge in Sachen Impfschutz. Der Film will weder missionieren, noch von notwendigen Schutzmaßnahmen abhalten. Er stellt vielmehr das Dilemma dar, in dem wir uns als Eltern wiederfinden, wenn wir für das Leben eines anderen verantwortlich sind, und plötzlich, von heute auf morgen für einen kleinen Menschen mitentscheiden müssen. Der Experte, der meines Wissens keine eigenen Kinder hat, kennt auf die Frage, wie man mit diesen Unsicherheiten umgehen soll, nur eine lapidare Antwort: „Sie müssen eben den Wissenschaftlern, den Einrichtungen, der STIKO vertrauen und sich auf ihren Arzt verlassen.“ Ein zynisches Lachen im Publikum war die beste Reaktion, die man darauf liefern konnte. Dass auch Ärzte in der Frage nach Risiko- und Nutzen-Abwägung oft überfordert sind, dass meine Kinderärzte strikt gegen die damals umstrittene Sechsfachimpfung waren, habe ich nicht mehr vorgebracht. Es ist oft sinnlos und ermüdend gegen Windmühlen zu kämpfen!

Er kam, zeigte, sprach und siegte! Auch wenn es David im Gespräch mit Professor Dr. Philipp Henneke und dem Publikum gar nicht ums Siegen ging, sondern um das Miteinander-über-den-Film-reden, ohne Beleidigungen und persönlichen Angriffen ausgesetzt zu sein. Für mich und für den Großteil der Zuschauer war die Diskussion um ein Für-und-Wider des Impfens gar nicht das zentrale Thema des Films, auch wenn es vordergründig darum ging.
Ich habe in EINGEIMPFT drei Ebenen erkannt: Ebene eins ist die autobiografische Grundlage, die Familiengeschichte. Darin wird lebendig, amüsant, berührend und humorvoll in der Ich-Perspektive, die den Film durchzieht, von den Querelen des Elternseins erzählt. Ebene zwei ist eine philosophische Betrachtung des Begriffs „eingeimpft“ an sich: Was geben wir unseren Kindern, bewusst und unbewusst, mit auf ihren Lebensweg? Welche „Ideologien“ werden ihnen von außen auferlegt, vor was müssen wir sie schützen? Können wir sie vor blindem Wissenschaftsglauben oder vor esoterischem Aberglauben überhaupt bewahren? Gibt es etwa eine Impfung gegen solche Extreme? Das fängt bei der Wahl der Kita an - Gemeindekindergarten oder kirchliche Einrichtung? - geht über zur schulischen Einrichtung (von da an können wir uns dann peu à peu von unserem Ideal einer ideologiefreien Erziehung verabschieden) und endet im kopfzerbrecherischen Kampf gegen Goliath, damit sich das Kind frei entfaltet und ein selbstbewusster, angstfreier, verantwortungsvoller, sozialer Mensch wird.
Ebene drei behandelt den offenkundigen gesellschaftsrelevanten Teil: natürlich, es geht ja schließlich um’s Impfen! Die Frage nach dem kollektiven Bewusstsein und der individuellen Freiheit spielt hierbei nicht zufällig eine Rolle. Schließlich wird nicht nur der Filmemacher sondern auch der gewiefte Zuschauer von der eventuell bevorstehenden Impfpflicht Wind bekommen haben. Somit schließt auch diese Ebene mit einer existenziellen Frage: Wie viel Freiheit gönne ich mir - wenn ich dafür selbst Verantwortung übernehmen, tragen und selbst aktiv sein muss?
Welche wichtigen Entscheidungen überlasse ich anderen, welche treffe ich selbst? Haarsträubend ist in dieser Hinsicht der herangeführte Vergleich des Experten, Prof. Dr. Henneke, der in der Autowerkstatt die Notwendigkeit einer Instandsetzung auch nicht infrage stellt. Ich schon, und ich würde es jedem raten, der nicht Rockefeller heißt. Vor allem aber würde ich eine zweite Meinung einholen, lesen, mich informieren, recherchieren, wenn es eben nicht nur um das „heilige Blechle“, sondern um das Leben des eigenen Kindes geht.



303
Wer den Film INTO THE WILD kennt und von Christopher McCandless’ Aussteiger-Geschichte gehört hat, die oder der wird 303 von Hans Weingartner bestimmt mögen. 303 ist wie INTO THE WILD, nur zarter, gefühlvoller, romantischer! Der österreichische Filmemacher erzählt in seinem neuen Film, ein Roadmovie, die Geschichte der 24-jährigen Studentin und angehenden Biologin Jule, die durch ihre Prüfung gefallen ist. Dazu kommt noch, dass sie ungeplant schwanger wurde. Sie denkt über eine Abtreibung nach, doch zuvor will sie mit ihrem Freund Alex sprechen, der in Portugal seine Dissertation schreibt und keine Ahnung von ihrer Schwangerschaft hat. Sie fährt kurzentschlossen mit ihrem Wohnmobil, dem titelgebenden Mercedes Camper 303, los um ihren Freund in Portugal zu besuchen. An einer Tankstelle in der Nähe von Berlin trifft sie auf den gleichaltrigen Politik-Studenten Jan, der per Autostopp nach Spanien möchte, um dort seinen leiblichen Vater kennenzulernen.
Von seiner ursprünglichen Mitfahrgelegenheit versetzt, ist Jan in Sachen Menschen so ziemlich enttäuscht und abgeklärt. Er ist überzeugt davon, dass der Mensch von Natur aus egoistisch ist. Jule dagegen ist der Meinung, dass der Mensch ein kooperatives und empathisches Wesen ist. Sie bietet Jan daher einen Platz in ihrem Wohnmobil ein. Zwar sollte es zunächst gemeinsam nur bis Köln gehen, allerdings verstricken sich die beiden in tiefsinnige Gespräche über die Natur des Menschen, den Kapitalismus, Kooperation gegen Wettbewerb, die Liebe und den Sinn des Lebens. Und kommen sich dabei näher, als ihnen zunächst lieb ist…

Was die besondere Stärke des Films ausmacht, ist die langsame Annäherung der beiden jungen Menschen, die in Diskussionen um Darwins Theorie des „Survival of the Fittest“, um chemische Prozesse bei der Partnerwahl, und um die Menschheitsgeschichte den Weg zueinander finden - ihrem eigenen Willen und jeglichem vernünftigen Dagegenhalten zum Trotz. 303 beschreibt in Zeiten von Tinder, von sozialen Medien und Speed-Dating, was es heißt, sich und der Liebe, der echten, realen und wahrhaftigen Liebe, eine Chance zu geben. Dabei fängt Hans Weingartner wie zufällig die atemberaubenden Landschaftsbilder ein, die die verschiedenen Stimmungen wiedergeben und betreibt en passant Systemkritik. Die Gespräche wirken so spontan, authentisch, lebensecht. Man könnte meinen, Weingartner habe seinem Cast gar kein Skript in die Hand gedrückt, sondern lediglich die Anweisung gegeben: „Spielt euch: ihr seid auf eurem Weg, habt ein Ziel vor Augen, und wollt vor allem eins auf gar keinen Fall: euch verlieben. Dabei fällt es euch von Kilometer zu Kilometer schwerer euch der Anziehungskraft des anderen zu entziehen.“
Ob Francois Truffaut in JULES ET JIM auf diese Weise inszeniert hat? Der 1962 erschienene Film, der als Klassiker der französischen Nouvelle Vague gilt, handelt zwar von einer dramatisch endenden Dreierkonstellation, doch finden sich dennoch Grundelemente in 303 wieder: der intellektuelle Diskurs in etwa, der dem französischen Vorgängerfilm zugrundeliegt, die gemeinsame Fahrt in den Süden, die Entwicklung einer Beziehung, die neu definiert werden muss. Schließlich ist 303 weniger tragisch, aber ähnlich zum Nachdenken anregend, und dennoch nicht verkopft. Es ist vielleicht die glücklichere Variante von JIM und CATHERINE (oder JULES und CATHERINE), die Truffaut nicht erzählen wollte oder konnte.
Die Premiere feierte 303 auf der Berlinale, wo der Film die Sektion „Generation 14plus“ eröffnete.



YOUNG MAN WITH HIGH POTENTIAL & YUNG
Kopf neben Körper, Lars von Trier neben Gaspar Noé

Ach, ja Berlin. Die Party-Metropole mit den angesagtesten Clubs, in denen die krassesten Typen und die noch krasseren Mädels - "Görls!", sorry - abhängen. Sie konsumieren Drogen, flirten, dancen, vögeln wild, ziehen sich vor laufender Webcam aus und machen daraus ein lukratives Geschäft, inszenieren sich selbst, pennen in der Bahn und verlieben sich manchmal, aber nicht allzu heftig, denn schließlich will man nicht als uncoole Klette gelten. YUNG ist Henning Gronkowskis Spielfilm-Regiedebüt und der Schauspieler, Lemke-Schüler und Selbstdarsteller hat damit quasi seiner eigenen Jugend ein filmisches Denkmal gesetzt. Ob er sich dabei minutiös an reale Ereignisse gehalten hat, oder ob die realen Ereignisse nur als Inspiration für den Film dienten, sei dahingestellt. Er zeichnet auf jeden Fall kein neues Bild der Berliner Nachtszene ab und ist an „flirrenden Trips“ wie die von Jakob Lass angelehnt. Selbst die Protagonistinnen ähneln in eklatanter Weise dem TIGER GIRL und ihrer Freundin Vanilla.

Die Handlung setzt sich jedoch gänzlich von TIGER GIRL ab; und somit auch von der Machart des Autorenteams um Jakob Lass, das im Unterschied zu Gronkowski ein sehr gutes Händchen für eine überraschende Story bewies und den Figuren durchaus ihre Tiefe und Stärke zugestand. Hier dagegen geht es um vier junge Mädchen, die nicht mit Reizen geizen, aber ansonsten nicht viel auf dem Kasten zu haben scheinen. Es sind Stereotype, die Henning hier reproduziert: Partys, Drogen, Sex, von einem besseren Leben als Star träumen - ist das alles, was weibliche Teenager und junge Erwachsene antreibt? Haben sie keine anderen hehren Ziele? Und warum sind das keine jungen Männer, die sich vor laufender Webcam und Kamera ausziehen und dem voyeuristischen Blick des Regisseurs und der sabbernden, fast ausschließlich männlichen Zuschauerschaft zum Opfer fallen? Nach diversen Debatten, wie viel „me too“ unsere Gesellschaft noch verträgt, scheint es, dass es kein Ende nehmen wird, wenn ich mir solche Filme ansehe bzw. ansehen (muss).

Auch habe ich, was die Rollenverteilung der Protagonistinnen angeht, ein ziemlich unangenehmes Bauchgrummeln: Da wird beispielsweise die junge Abbie, 16 Jahre alt, von der afroamerikanischen Joy, 17, zum Drogenkonsum verführt. Also stupider und flacher hätte man die gängigen Klischees von kriminellen Migrantinnen nicht auch noch unterbringen können. Ja, wenn es dem Jungregisseur, der für sich beansprucht, das wahre Berliner Leben aus der jugendlichen Perspektive zu zeigen, gar ein ganzes „Generationenporträt“ abzubilden, gelungen ist, etwas mit dem Film zu erreichen, dann ist es sich für den unorthodoxen Titel „Abfuck“-Film zu qualifizieren. Glückwunsch, Henning Gronkowski!

Und danke auch Filmfest München für diesen cineastischen Nonsens, der auch noch provokativ im Online-Programm neben dem Titel A YOUNG MAN WITH HIGH POTENTIAL platziert wurde - das ist schon derbe! Ein Typ, der hochintelligent ist, ein Nerd, wie er im Buche steht: schüchtern, jungfräulich, der aber nicht zu lieben fähig zu sein scheint, sich im Laufe des Films zum Triebtäter entwickelt, und sein Objekt der Begierde explizit zerstückelt. Also Täter neben Opfer. Kopf neben Körper. Lars von Trier neben Gaspar Noé - da haben wir sie doch endlich, die Cannes-Anleihen! Man will auffallen, Skandalfilme, braucht auch nicht viel kosten das Ganze (Geld spielt keine Rolex, sagt’s und trägt eine.) Es ginge dabei, so Linus de Paoli und Henning Gronkowski fast unisono, nicht um Kommerz, den können ja die biederen Filmemacher bedienen. Nein, es geht um Filmkunst! Ah, ja. Na dann: Hauen Sie weiter rein, das Kunstblut und die künstlichen Drogen!




SOLO: A STAR WARS STORY
Starke Frauen und ein neuer alter Held am Star-Wars-Firmament
Vergesst was ihr bislang über das zweite Spin-Off gehört habt! Dieser, ungefähr zehn Jahre vor dem allerersten Star-Wars-Film Episode 4 KRIEG DER STERNE angesiedelte Ableger, ist einer der besten STAR WARS-Filme aller Zeiten! Man tut ihm also absolut Unrecht, wenn man ihn als bloßen „Pausenfüller“ oder Zwischenfilm betrachtet. Regisseur Ron Howard und das Drehbuchautoren-Duo Lawrence Kasdan und sein Sohn Jonathan Kasdan haben dem Helden des George-Lucas-Universum Han Solo ein monumentales, filmisches Denkmal erbracht. Es ist aber zugleich auch eine der berührendsten Liebesgeschichten, ein Hommage an die weibliche Emanzipation, Gesellschaftskritik, Ehrerweisung an die Rebellion, den Freigeist; es ist ein Space-Western mit Elementen der Komödie, der Tragödie, der Romanze. Dabei steht der junge Han im Mittelpunkt des Geschehens.
Eigentlich möchte er nur Pilot werden. Der beste in der Galaxis. Auf Corellia stehen die Chancen allerdings mittelbescheiden gering für ihn. Es ist jetzt schon zehn Jahre her, dass das Imperium die Macht übernommen hat. Für die Planeten der Galaxis bedeutet das Unterjochung, Armut, Kriminalität. So herrscht auf Corellia das Verbrechersyndikat White Worms unter der Führung von Lady Proxima. Daher bleiben Han, der in dem Armenviertel der Hauptstadt Coronet großgeworden ist, und seiner Freundin Q’ira nur die Flucht. Die will er sich mit einem kleinen Gefäß erkaufen. Darin befindet sich das in der ganzen Galaxis begehrte Coaxium, ein flüssiger Treibstoff, der für Hyperraumantriebe benötigt wird und auf dem Schwarzmarkt teuer gehandelt wird. Und um dieses Coaxium wird es auch im Verlauf der Solo-Auskopplung des Öfteren gehen. Als nämlich Han Jahre später Teil der imperialen Armee geworden ist, um als Pilot nach Corellia zurückzukehren und ein Versprechen einzulösen, lernt er den Schurken Tobias Beckett und sein Team kennen, die gemeinsam planen, das Coaxium aus den Minen von Kessel zu stehlen. Bald darauf trifft Han auch durch einen nicht sehr feinen Schachzug dieser Räuberbande seinen späteren besten Freund: den Wookiee Chewbacca. 
Lando Calrissian, der Millenium Falke, Tatooine - spätere Weggefährten, legendäre Transportmittel, Kult-Orte werden etabliert oder erneut ins Spiel gebracht. War Tatooine beispielsweise in EPISODE III - DIE RACHE DER SITH noch der Zufluchtsort von Obi-Wan, ist es hier Hans Ziel, um als Pilot bei einer Verbrecherorganisation anzuheuern. Wird in der dritten Episode noch mittels Sternjäger die Ära des Imperiums eingeläutet, sind die Auswirkungen dieser Übermacht in Solos Geschichte deutlich erkennbar.
Was aber am wichtigsten, wenn gleich nicht offensichtlich erscheint, sind die starken Frauenfiguren im Film: Lady Proxima als Herrscherin des Untergrunds von Corellia und fiese Menschenhändlerin, L3-37 - Landos Droide (oder Droidin?) und Co-Pilotin, die sich gegen die Unterdrückung und Ausbeutung der Droiden und für die Gleichberechtigung einsetzt und für Aufruhr und Chaos sorgt, Val - Tobias Becketts rechte Hand und treue Partnerin, Enfys Nest, die Rebellenanführerin und Rivalin von Tobias Beckett, und schließlich Q’ira, die für Han Solo bei weitem mehr als eine gute Freundin ist, spielen in diesem Teil der STAR WARS-Saga herausragende Rollen, die den Vergleich mit Prinzessin Leia, mit Padmé Amidala und anderen weiblichen Charakteren nicht scheuen müssen.
Sie sind es, die die Geschichte mittragen, wenngleich sie von der zentralen Figur Han Solo handelt und von Gaunern und Verbrechern geprägt ist, gegen die sich unser Held behaupten muss. Was Han über weite Strecken des Films zum Einzelkämpfer macht, und die charakteristischen Outlaw-Anzeichen hervorbringt.
So solo ist dann Han am Ende doch nicht: Er hat in Chewie einen neuen, treuen Freund gefunden und Q’ira opfert sich (wie genau wird hier nicht verraten), um ihre Jugendliebe vor dem Schlimmsten zu bewahren. Kann es einen größeren Liebesbeweis geben?




ISLE OF DOGS - ATARIS REISE

Auf den Hund kommen nicht nur Tierfreunde. Das wissen wir spätestens dann, wenn wir unseren Kontoauszug betrachten. Aber in diesem Fall, in Wes Andersons neuem Werk ISLE OF DOGS - ATARIS REISE, geht es weniger um eine finanzielle Notlage, sondern um eine Elendssituation der Hunde in Japan. Somit kommen im Film die Hunde auf den Hund, wenn man so will. Seit Jahrtausenden ist der Vierbeiner unser treuer Begleiter. Das macht sich nicht nur sprachlich bemerkbar - wenn wir beispielsweise von hundsgemein, hundemüde, vom Hundewetter oder Hundeleben reden - sondern eben auch filmisch. Erstaunlicherweise kommt der Hund als Nutztier in der Sprache oft schlechter weg, wie man an den angeführten Beispielen erkennen kann, als im Film. Und wie ist es auf der „HUNDEINSEL“?

Erzählt wird in Andersons Animationsfilm die Geschichte von Atari Kobayashi, dem 12-jährigen Pflegesohn des korrupten Bürgermeisters Kobayashi. Wobei die Hunde die eigentlichen Protagonisten sind, deren Schicksal in mehreren Kapiteln unterteilt ist: Es beginnt mit einem Prolog, in dem die Geschichte der Beziehung zwischen Menschen und Hunden im Japan der vorangehenden Dynastien geschildert wird: Die Hunde werden vom kaiserlichen Hof vertrieben, da der neue Herrscher Hunde verabscheut. Und Kobayashi ist, wie sich später rausstellt, der Nachfahre dieser Dynastie von Katzenliebhabern. In einer dystopischen Zukunft, in der futuristischen Großstadt Megasaki City, werden die Hunde, die nunmehr ein armseliges Leben führen, von einer mysteriösen Krankheit heimgesucht, die hochansteckend zu sein scheint - eine Art „Hundegrippe“. Dieser Epidemie will die Regierung Herr werden, indem sie die vierbeinigen Keimträger auf eine Insel verbannen, die eine Mülldeponie ist. Wir sehen, wie erst Spot, Ataris Wachhund, abtransportiert wird. In der Ödnis der von verfaulten Lebensmitteln bedeckten Insel folgen wir Chief, Rex, Boss, Duke und King auf ihren Streifzügen. Dann, im ersten Kapitel mit dem Titel „Der kleine Pilot“ sehen wir, wie Atari nach einer Bruchlandung auf diese fünf Hunde trifft, worauf sie sich gemeinsam im zweiten Kaptiel auf die „Suche nach Spot“ machen. 

In „Das Rendezvous“ erfahren wir mehr über Spot, und in „Ataris Laterne“ wird dann der Kampf um die Freiheit und Heilung der Hunde gezeigt. Denn gegen diese Seuche haben Wissenschaftler ein Mittel entwickelt, das Erfolg verspricht. Aber der fiese und miese Bürgermeister und seine Helfer und Unterstützer wollen davon nichts wissen. Eine amerikanische Austauschschülerin ist es, die dann das Ruder in die Hand nimmt und sich solidarisch gegen diese unmenschliche und -tierische Behandlung auflehnt. Sie organisiert einen Widerstand, der sich gewaschen hat. Gelingt es ihr, den Bürgermeister aufzuhalten und schafft es Atari, Spot zu finden und ihn und seine bellenden Freunde zu retten? Das erfahrt ihr natürlich im Kino!

Wes Anderson polarisiert mit diesem Film stärker als sonst. Das fällt einem bei diesem, einer seiner beeindruckendsten Werke auf, wenn man die Kommentare nach dem Film liest und hört, wenn man die Rezeption des Films bei Festivalbesuchern und beim Fachpublikum wahrnimmt. Den einen missfällt der Umstand, dass gerade eine amerikanische Austauschschülerin als Heldin und Retterin gezeigt wird; dass sie Tier und Mensch, der ohne die kläffenden Freunde verloren wäre, aus der Misere holt. Den anderen gefällt es nicht, dass der Film die Hundefabel nutze, um das Prinzip des Herrschers und Beherrscht-Werdens darzustellen. Aber ist das nicht ein wenig weit hergeholt? Dass Anderson die Beziehung zwischen Mensch und Tier, in diesem Fall der Hund, mit den transnationalen Beziehungen gleichsetze, ist schon arg in das Werk hineinprojiziert. Tiere werden nun mal seit jeher domestiziert, weil man sie braucht: Hunde waren einst keine Schoßtiere, die man verhätschelte, sie waren und sind noch heute dazu da, das Haus zu bewachen, zu hüten, Wild aufzustöbern, Fremde zu verjagen, und mancherorts wurde und wird er noch als Zugtier genutzt - denken wir an die Huskies. Daher finde ich die Kritiken an den Film und diese politische Lesart etwas haarsträubend. Natürlich ist der Film in gewisser Weise politisch, weil er Gesellschaftskritik betreibt. Aber gehen wir zunächst mal von der Mensch-Tier-Beziehung aus. Was ich vorhin beschrieben habe, ist die Aufgabe der Hunde. Was bietet ihm aber der Mensch? Auch wir beschützen sie vor Gefahren, bieten ihnen ein möglichst artgerechtes Leben, Futter, Wärme, eine Familie, ein Zuhause. Atari, das sind wir. Sein Hund „Spot“ ist für ihn nicht nur ein Leibwächter und er ist auch mit keinem Roboter der Welt zu vergleichen, oder gar durch diesen zu ersetzen. Spot ist sein bester Freund. Jemand, auf den er sich hundertprozentig verlassen kann. Daher ist es verständlich, dass er mit Tränen in den Augen und Wut im Bauch dabei zusehen muss, wie sein bester Freund deportiert wird. 

Auch hier ziehen die Kritiker Vergleiche heran, die nicht zutreffend sind, und das Werk fehldeuten. Dabei ist die Botschaft eigentlich sehr klar und unmissverständlich: Behandle die Natur mit Respekt, produzier nicht so viel Müll, behandle die Lebewesen, deinen treuen Freund den Hund beispielsweise, nicht wie ein Eigentum; wie etwas, das in Päckchen verschnürt entsorgt werden kann, wenn man es nicht mehr braucht. Viel mehr kann man und sollte man dazu wirklich nicht sagen, oder hineindeuten.

Übrigens: die Tiere im Film mit Giftgas vernichten zu lassen, ist starker Tobak für jeden Menschen, der sich für Tierschutz und -rechte einsetzt. Aber es gleichzusetzen mit einer „Holocaust“-Anleihe, das ist noch weitaus stärkerer Tobak! Außerdem muss man nicht immer alles auf Europa beziehen (leider gibt es viele Menschen in Deutschland, die meinen, alles würde sich um sie und um ihre Geschichte drehen): Bis kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs produzierte Japan auf Okunoshima tausende Tonnen Giftgas. Das Projekt war so geheim, dass das Eiland von den Landkarten getilgt wurde. Heute verfallen die alten Anlagen, und die ehemaligen Versuchskaninchen haben die Insel zurückerobert. Ein Happy-End sozusagen, etwas, was ja in Kritikerkreisen oft verpönt ist. Vielleicht hat Anderson darauf Bezug nehmen wollen? 

ISLE OF DOGS - ATARIS REISE ist ein ironischer Verweis auf unsere unkontrollierbare, sich verselbstständigende Automatisierung, Sterilisierung und zugleich auf die Vermüllung der Erde. Wir Menschen entscheiden mehr denn je über lebenswertes und nicht lebenswertes Leben; wir konstruieren und demollieren, wir erzeugen Viren, die sich dann unkontrolliert verbreiten. All unsere - und wenn ich „wir“ sage, dann meine ich es auch so, weil tatenloses Zusehen gleichzusetzen ist mit Mittäterschaft -  Bemühungen uns die Welt in all ihren Facetten und kleinsten Details habhaft zu machen, sie uns untertäniger zu machen, als sie es bereits war, führt uns in die Sackgasse. Dass die Konsequenzen im Film nicht so drastisch dargestellt werden, ist dem Jugendschutz anzurechnen. Schließlich soll ATARIS REISE auch die kleinen Kinobesucher anlocken und erfreuen. 




EVA - Und ewig grüßt die "Femme fatale" 

Bertrand steht an der Badewanne seines Kunden oder Bekannten. Ein älterer Mann, Schriftsteller, wie wir später erfahren werden, der sich in seinem fortgeschrittenen Alter noch etwas menschliche Nähe wünscht. Doch dazu kommt es nicht. Der sterbenskranke Mann verlangt nach seiner Medizin, die er nicht mehr rechtzeitig einnehmen kann. Er stirbt in der Wanne und Bertrand verlässt samt Manuskript des Verstorbenen die Wohnung. Er beseitigt die Beweise und macht sich auf den Weg zu seiner Verlobten, Caroline. Der junge Mann, der zum zufälligen Zeugen des Todes geworden ist, lässt das Stück unter seinem eigenen Namen aufführen und berauscht sich am Erfolg. Doch bald wartet die Welt auf das nächste Werk des vermeintlichen literarischen Wunderkindes. 

Caroline schlägt ihm vor, sein neues Stück im abgeschieden gelegenen Ferienhaus ihrer Eltern zu verfassen. Dort könne er in Ruhe arbeiten. Den Vorschlag nimmt Bertrand gerne an, vermutlich um erstmal aus dem Blickfeld zu kommen, denn die Erwartungshaltung seiner Mitmenschen macht ihn zunehmend nervös. 

Bis dahin war ich noch Passagierin dieser Reise, die ein gelungenes Remake der Romanverfilmung von Joseph Losey, basierend auf der Literaturvorlage des britischen Autors James Hadley Chase sein könnte. Es könnte ein gutgemachter Thriller werden. Das Potential hat er, dachte ich. Zumindest wird es wohl ein kurzweiliger Krimi. Aber als Bertrand ins Haus seiner Verlobten ankommt, und dort im Chaos eine fremde Frau vorfindet, die sich offensichtlich mit ihrem männlichen Begleiter unerlaubt im Haus aufhält, und die eine Edelprostituierte zu sein scheint, spätestens in dem Moment, in dem Isabelle Huppert als diese mysteriöse Frau in Erscheinung tritt, bin ich ausgestiegen. Nicht schon wieder! Es ist doch immer dasselbe mit der Huppert! Man kann schon fast drauf wetten, dass sie in der nächsten Ausgabe des Festivals als „femme fatal“ irgendwo in einem französischen Film auftaucht. Irgendwie passt auch das zu dem „Püppchen“-Syndrom, das sich in der 68. Edition der Berliner Festspiele abzeichnet. Die Titel, die ich vorhin erwähnt habe unterscheiden sich jedoch stark von der hier behandelten Thematik. EVA ist eine Puppe, die Lust an dem Verkleidungsspiel verspürt und sich mittels Kostümierung eine Art Machtposition erarbeitet. 

Man mag Eva als „starke Frau“ wahrnehmen, aber diese Härte, die sie als Domina zeigt, ist nur der Lack unter der rostigen Karosserie. Das hat gar nicht mal etwas mit ihrem Alter, als mit dem Umstand zu tun, dass sie einen „verbrauchten“ Eindruck macht. Womit wir wieder beim Puppen-Motiv wären: Puppen der Filmwelt werden angezogen, ausgezogen, präsentiert, in eine Figur gepresst und wenn sie abgebrannt und verbraucht sind, was passiert dann mit ihnen? Ich finde, Frau Huppert hat das Recht, in Würde zu altern. Wäre zu wünschen, dass ihre Regisseure es auch so sehen und ihr umwerfende Rollen in wirklich bemerkenswerten, tiefsinnigen, rätselhaften Werken geben, die man nicht jeden Tag zu sehen bekommt. 




THE BOOKSHOP - DER BUCHLADEN DER FLORENCE GREEN 
Unter Büchern ist man niemals allein

THE BOOKSHOP ist für mich der Blick in eine vergangene Zeit, die man durch eine Art Kaleidoskop sieht; wie die Reise in einen weit entfernten und doch vertraut scheinenden Ort. Es weckt eigene Wünsche und Träume und gibt Mut, auch den widrigsten Umständen zu trotzen. Eine Violet Gamart findet man an jedem Ort. Diese Menschen, die einem alles madig zu machen versuchen, die - weil sie kein eigenes Leben haben, weil ihr Leben zu langweilig und bieder ist, oder weil sie fürchten, es könnte jemand Interessanteres kommen und ihnen den Platz an der Sonne streitig machen - jede noch so perfiden Schachzug anwenden, um einen kleinzuhalten, zu verunsichern und schließlich zu vergraulen. Neben Mister Edmund Brundish, gespielt von Bill Nighy, der den etwas steifen, aber nach anfänglicher Kälte warm werdenden Unterstützer und Freund von Florence darstellt, ist es die kleine Christine Gipping, die im Buchladen aushilft, welche für Florence eine wichtige Rolle einnimmt. Mit ihr teilt Florence die Liebe zur Literatur, die in Christine erst nach und nach entfacht wird. Ihr kann sie ausnahmslos vertrauen, weil die Kleine, anders als die meisten Erwachsenen in diesem Dorf, loyal und ehrlich ist. Und Christine findet in Florence eine Mentorin und Lehrerin, die ihr über Bücher mehr beibringen kann, als die Schule je vermag. 

Gespielt wird Christine von Honor Kneafsey und das macht die junge Darstellerin mit solcher Überzeugungskraft, dass man ihr ihren müden Blick im Unterricht durchaus abkauft und ihre Freude bei der Arbeit mitempfindet. Wer würde nicht viel lieber in einem Buchladen aushelfen, dabei etwas Geld verdienen und nebenbei Wissenswertes über die wichtigsten Autoren unserer Zeit erfahren? 

Getragen wird aber der Film vor allem von der Hauptdarstellerin Emily Mortimer, die geradezu prädestiniert ist für diese Rolle: sie hat so etwas Zartes, Feines, Zerbrechliches, und gleichzeitig wirkt sie entschlossen, eigenwillig und vor allem mutig. Mut steht im Zentrum dieses feinfühlig behandelten, von wunderbaren Landschaftsaufnahmen begleiteten Films. Mut dazu, seine Träume zu verwirklichen; Mut, den Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, auszuweichen, sie aufzusammeln und daraus einen Buchladen zu bauen. Es gehört aber auch Mut dazu, wie Patricia Clarkson als Violet Gamart zeigt, sich als sogenannte frühe Influencerin, als einflussreiche Weltdame zu behaupten, in dieser männerdominierten Welt der 50er Jahre. Ihr Mann gehorcht ihr, genauso wie der Lebemann Milo North, der die Gutgläubigkeit von Florence schamlos ausnutzt. Muss man also, um in dieser Welt zurechtzukommen eine Violet sein, sich einen Teufel um anderer Gefühle scheren, sich die Männer untertan machen und potentielle Konkurrentinnen ausschalten, bevor diese sich etabliert haben? Ich denke, dass es Isabel Coixet nicht darum geht eine bestimmte Haltung zu propagieren. Selbst die durch und durch korrekte und anständige Florence kann sich bestimmter Gefühle und einer subtil vorgebrachten Kritik nicht erwehren: Ist ihr der Buchladen wirklich wichtig, oder will sie Violet Gamart nur zeigen, dass sie sich nicht von ihr einschüchtern lässt? Was, wenn sie Violets Vorschlag, das Haus aufzugeben, in dem Mrs Gamart ein Kulturzentrum gründen will, und in anderen Räumlichkeiten den Buchladen zu eröffnen, angenommen hätte? Diese Fehde geht schließlich zu Lasten des wirtschaftlichen Erfolgs. Florence wird ihren Laden schließen müssen. Und was wird aus Christine? Sie wird das Erbe, das Florence ihr hinterlassen hat, hegen und pflegen und in ein paar Jahren am gleichen Standort einen neuen Bookshop eröffnen. Es lebe die Leselust! 




DOVLATOV
"Freiheit muss man sich vom ersten Tag des Lebens an erkämpfen." Wladimir Kaminer

Wo aber kommen diese Bücher her, die geschrieben und gedruckt werden, fragt man sich. Beispielsweise aus der ehemaligen Sowjetunion - wenn der Staat die Veröffentlichung genehmigt. Da sind wir also. Im Jahr 1971 in Leningrad. Die Stadt liegt im Nebel. Wieder wird der Jahrestag der Revolution gefeiert. Doch das Land tritt auf der Stelle: politisch, ökonomisch, kulturell. Sergej spürt es am eigenen Leib. Die Manuskripte des jungen Autors Sergej Dovlatov werden von den offiziellen Medien regelmäßig abgelehnt. Seine Sicht auf Dinge und Menschen wird nicht akzeptiert. Anderen ergeht es ähnlich, auch seinem Freund Joseph Brodsky, den die Staatsmacht ins Exil zwingt. Sergej aber will bleiben, ein normales Leben führen. Seiner Ex-Frau Lena bietet er ein freundschaftliches Verhältnis an, vor allem weil er seine Tochter Katya über alles liebt und sie nicht verlieren will. Und er will über die Entdeckung der Wirklichkeit schreiben, über die Arbeiter der Werft oder den Bau der Metro, wo eines Tages dreißig Kinderleichen aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden wurden. 

Das ist nicht der einzige traurige Moment im Film. Man wird einige Male an solche menschlichen Abgründe gebracht, die einen aus dieser lethargischen Gemütslage, die sich wie der Nebel über den Film legt, aufrütteln. Neben der Lethargie ist auch die Enge, die sich vor allem in der viel zu kleinen Wohnung zeigt, welche sich Dovlatov mit seiner Mutter und anderen Autoren teilt, ein Zeichen dieser Zeit, in der die Autoren und Künstler feststecken. Eine Zeit, geprägt von Reformversuchen, dem sich das Regime vehement widersetzte, von Konservatismus (der 1964 ins Amt des Ersten Sekretärs und Generalssekretärs tretende Leonid Breschnew war ein Konservativer), vom Einmarsch durch die Warschauer-Pakt-Staaten gegen die Freiheitsbewegung des Prager Frühlings in der Tschechoslowakei. In diesem vom Staat reglementierten und kontrollierten Alltag, versucht sich Sergej Dovlatov zurechtzufinden, im Kleinen zu rebellieren, sich anzupassen, Schmerz und Müdigkeit zu ertragen, und alles mit seinem trockenen Humor zu sehen. Soweit es eben geht. 

Dabei erinnert der stämmige und zynische Sergej - bzw. der Schauspieler Milan Marić - in seiner Ausstrahlung, seiner Gangart, in der Art, wie er spricht und alles hinter einem Mantel der Ironie versteckt, eklatant an den Autor Wladimir Kaminer. Beiden ist dieser eigensinnige Humor gemein. Beiden gemein sind auch die brillanten ironischen Texte; Dovlatovs wurden erst dann gedruckt und gefeiert, als dieser im amerikanischen Exil mit 48 Jahren verstarb. Heute ist er einer der meistgelesenen Schriftsteller in Russland. Somit bewahrheitet sich Brodskys Ausspruch: „Wir sind die letzte Generation, die die russiche Literatur retten könnte.“ 

Alexey German Jr.’s Stärke ist es, sowohl extrem bedrückende Momente, das Gefühl der Ohnmacht und der Mutlosigkeit, und gleichzeitig ironische, witzige, durchaus auch befreiende Momente im Film zu erzeugen. 




MADAME - Im Fegefeuer der Eitelkeiten made in France

In der französischen Komödie MADAME geht es um ein reiches amerikanisches Ehepaar, gespielt von Toni Collete und Harvey Keitel, das erst vor Kurzem nach Paris gezogen ist. Anne und Bob möchten sich der örtlichen High- Society gerne von der besten Seite zeigen und geben ein kleines Stell-dich-ein. Doch mit einem Gast hatte die Hausherrin nicht gerechnet: als Steven, Bobs Sohn aus erster Ehe, zu der Party stößt bringt er die abergläubische Anne in die Bredouille: Dreizehn Gäste an einem Tisch bringen Unglück, meint sie und bittet daher ihr Dienstmädchen Maria, sich als reiche spanische Freundin auszugeben. Von dieser vermeintlich spanischen Freundin ist der britische Kunsthändler David jedoch ungeahnterweise sehr angetan. Anne versucht verzweifelt, alles wieder in Ordnung zu bringen, weil es in ihren Augen nicht angehen kann, dass eine Hausangestellte ein Verhältnis mit einem reichen Mann eingeht. Tief in Annes Innerem geht es jedoch um eigene, unerfüllte Sehnsüchte... Maria denkt aber gar nicht daran, sich dem Wunsch der MADAME zu beugen und das Tête-à-Tête zu beenden; sie fühlt sich nämlich in ihrer neuen Rolle allmählich richtig wohl... 

MADAME ist eine kleine Abrechnung mit den Befindlichkeiten der Oberen Zehntausend. Aber auch nicht mehr als ein kleiner Tritt ans Schienbein. Als Gesellschaftskritik kann das bei weitem nicht betrachtet und bezeichnet werden. Es ist aber auch immer wieder nett anzusehen, wie die französische Filmwelt ihre kleine Fede mit Hollywood geschickt cineastisch verpackt, und ihre kleinen Seitenhiebe galant verteilt. Chapeau dafür! Die Genialität eines Truffauts oder Jeunets macht sich jedoch derzeit rar... 




ZWISCHEN ZWEI LEBEN - THE MOUNTAIN BETWEEN US
Was uns verbindet

Die Fotojournalistin Alex Martin und der Chirurg Ben Bass haben dasselbe Problem: ein heftiger Sturm hindert sie daran, den geplanten Flug nehmen zu können. Die resolute Alex möchte sich aber nicht mit dem Gedanken anfreunden, in Idaho festzusitzen, da die am nächsten Tag heiraten soll. Bei Ben steht wesentlich mehr auf dem Spiel: als Neurochirurg soll er das Leben eines Menschen retten. Gemeinsam beschließen sie, ein kleines Flugzeug mit einem unerschrockenen Piloten zu chartern. Ihr Ziel werden sie dennoch nicht erreichen, denn der Pilot erleidet in der Höhe einen Schlaganfall und das Privatflugzeug stürzt ab. Als einzige Überlebende in der schneebedeckten Wildnis, und ohne Aussicht auf baldige Rettung, müssen Alex und Ben der rauen Natur trotzen und sich gegenseitig beistehen, um nicht zu resignieren. Auf ihrer Hunderte von Meilen langen Tour fordern sie sich gegenseitig auf, durchzuhalten und entwickeln unerwartete Gefühle füreinander... 

ZWISCHEN ZWEI LEBEN - wie der US-amerikanische Abenteuerfilm THE MOUNT AIN BETWEEN US von Hany Abu-Assad im deutschen Verleih heißt, ist ein gut gemachter, weder verstörender noch tiefgründiger aber dramatischer Überlebensfilm. Basierend auf dem Roman „Erzähl mir dein Herz“/„The Mountain between us“ von Charles Martin und J. Mills Goodloe aus dem Jahr 2011, der im Oktober 2017 in einer Übersetzung von Ulrike Bischoff auch hierzulande erschienen ist, wurde die Geschichte eines Flugzeugabsturzes, vom Überlebens-kampf der Protagonisten, sowie ihrer wachsenden Zuneigung füreinander, erfolgreich für die Leinwand adaptiert. Getragen wird das Existenzdrama vom Filmpaar Kate Winslet und Idris Elba, ohne die der Film tatsächlich gefloppt wäre. Mit knapp 60 Millionen US-Dollar der weltweiten Einnahmen, kann man das nun dank der beiden überdurchschnittlich guten Darsteller nicht behaupten. 

Bei der Gelegenheit und im Hinblick auf die Diskussion um den Gender Pay Gap - die Lohnlücke zwischen Mann und Frau - fragt man sich: wie hoch ist überhaupt deren Honorar? Es ist gar nicht so einfach, das herauszufinden. Man erfährt so alles mögliche, zum Beispiel über Elbas Vorlieben für nackte Füße, aber wie die Schauspieler bezahlt wurden, danach muss man akribisch suchen und den Fund nahezu archäologisch ausgraben. So, here it is: Während Kate Winslet für ihre Rolle in THE MOUNTAIN BETWEEN US geschätzte dreieinhalb Millionen (3,500,000) US-Dollar erhielt, beläuft sich Idris Elbas geschätzte Jahres-Gage bei 60 Millionen US-Dollar, so dass man beim derzeit wohl bestbezahlten Darsteller von einem 12-Millionen-Dollar- Honorar ausgehen kann. Das ist zugleich sein derzeitiger Marktwert als Leinwand- und Fernsehstar. (...to be continued)




LUX - KRIEGER DES LICHTS 
Jeder von uns trägt seinen Helden in sich.

Bei den einen macht sich das in kleinen, scheinbar unbedeutenden alltäglichen Dingen bemerkbar, bei den anderen wird der innere Superheld nach außen getragen und zelebriert. Und wieder andere fangen klein an und werden zu großen Stars gemacht... 

Der schüchterne Endzwanziger Torsten Kachel lebt mit seiner Mutter im Osten Berlins. In der Gestalt von LUX - KRIEGER DES LICHTS versucht er, die Welt ein bisschen besser zu machen. Er verteilt regelmäßig Lebensmittel an Obdachlose und hilft auf seinen Streifzügen durch die Stadt, wo er kann. Ein Filmteam begleitet ihn dabei, um über das soziale Engagement des selbsternannten Real Life Superheros zu berichten. Weil sich das jedoch als recht unspektakulär entpuppt, findet Jan, der Regisseur, keinen Geldgeber für sein Projekt. Schließlich bekundet der gierige Produzent Brandt Interesse, allerdings unter der Voraussetzung, dass Jan ihm sensationelleres Material liefert: denn wo Superheld drauf steht, muss auch Superheld drin sein. Zögernd lässt sich Torsten von Jan dazu überreden, sich mehr auf die Bekämpfung von Kriminalität zu fokussieren. Zu Gunsten der Verbrecherjagd entfernt sich Torsten dabei allerdings immer weiter von seinen ursprünglichen Zielen. Lux wird zum medialen Hype. Doch die vermeintlichen Heldentaten wollen sich nicht einstellen. Erst als Torsten von der Stripperin Kitty um Hilfe geben wird, scheint LUX’ Stunde endlich gekommen: der vermeintlich große Moment erfährt jedoch eine unerwartete Wendung. 

Eindrücklich erzählt Wild in seinem bereits mit dem Drehbuchpreis des Sehsüchte Film Festivals und dem Heinz-Badewitz-Preis für das Beste Regiedebüt bei den 51. Internationalen Hofer Filmtagen ausgezeichneten Erstlingswerk, von der schöpferischen Kraft eines Außenseiters, dessen Impuls, anderen zu helfen und die Welt zum besseren zu verändern, wahrhaftige und echte kleine Heldentaten nach sich zieht. Der jedoch an der Gier, der Amoral oder Unmoral der Gesellschaft zu zerbrechen droht. Das Ganze führt uns der junge Filmemacher mit einer humorvollen Leichtigkeit vor, die uns das Eintauchen in die Welt des Helden leicht macht. Wir verfallen regelrecht dem Berliner Ostcharme und seiner Charaktere - vor allem dem Charme des Protagonisten, der seine Rolle überzeugend interpretiert. 

By the way: ist schon mal jemandem die Ähnlichkeit zwischen Franz Rogowski und Joaquin Phoenix aufgefallen? Das können Brüder sein. Da ich aber nichts von Vergleichen halte, das wisst ihr ja, würde ich natürlich nie vom deutschen Joaquin Phoenix sprechen. Regisseur Daniel Wild ging es genau um solche Identitätsstrukturen: „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ lautet der Titel von Richard David Prechts philosophischer Abhandlung. Darin stellt sich der Autor die Frage: Was ist Wahrheit? Woher weiß ich, wer ich bin? Warum soll ich gut sein? Das sind genau die Fragen, die auch im Fokus des Films stehen. Dem „Übermaß an Selbstverwirklichungsmöglichkeiten“, diesem Streben danach, etwas Spezielles sein zu wollen, um sich aus der Masse hervorzuheben, die zu einer „Überforderung des Einzelnen führen kann“, wie der Regisseur konstatiert, stellt er eine simple Formel entgegen: Sei einfach. Nicht du selbst, nicht was die Gesellschaft für hip hält, nicht einzigartig, nicht der Typ vor oder hinter der Maske, nicht das Mädchen mit der Perücke, kein Selbstdarsteller, kein Aussteiger, sei einfach. Lebe. Aber die wirklich radikale Botschaft, die uns Wild um die Ohren pfeffert ist die Tatsache, dass uns der eigentliche Film auf der formalen Ebene ebenfalls vorgaukelt, etwas zu sein, was er nicht ist . Nämlich ein Abbild der Wirklichkeit.




SPIDERMAN HOMECOMING - Vom Held zum Gefolgen

Gedulden mussten sich meine Spidy-Fans, die sehnsüchtig auf meine Rezension zum 2017 erschienen Film SPIDER MAN HOMECOMING gewartet haben. Was zunächst als Verriss gedacht war, ist nun weniger „gepfeffert“ - so ist es eben, wenn man die Dinge mit zeitlichem Abstand betrachtet und sich die Emotionen etwas gelegt haben. Gleich vorweg: Der Film gefällt mir noch immer nicht besonders gut. Aber ich kann den ein oder anderen gelungen Witz, die jugendliche Lässigkeit, die ein oder andere stilistisch einwandfreie Szene, die CGI-reiche Actionkost, die nun auch im Marveluniversum angeboten wird, zwanglos anerkennen. 

Leider muss man dann wiederum einschränkend sagen, dass die pikareske, authentische, natürliche Art des durch Tobey Maguire verkörperten Spidys hier deutlich fehlt. Als dieser 2002 in die Rolle des Spider-Man schlüpfte, wurde er quasi über Nacht zum Star und erlebte einen kometenhaften Aufstieg in Hollywood. Vielleicht liegt es auch an Maguires Biografie, die sich deutlich von der des Shooting-Stars Tom Holland unterscheidet. Der im Jahr 1975 in Santa Monica, in Kalifornien geborene Tobias Vincent Maguire stammt aus ärmlichen Verhältnissen; sein Vater Vincent war Koch, verließ aber die Familie zwei Jahre nach Tobeys Geburt. Während seiner Kindheit wechselte Tobey mit seiner alleinerziehenden Mutter häufig den Wohnsitz und lebte u.a. in Kalifornien, Oregon und Washington. 2007 erzählte der Schauspieler in einem Interview mit der Zeitschrift „Player“, er habe in dieser Zeit ganze 12 x die Schule gewechselt. Durch die ständigen Neuanfänge habe er wenig Kontakte knüpfen können. Die familiären Probleme setzten ihm dermaßen zu, dass er als Teenager alkoholabhängig wurde. Glücklicherweise bekam er die Sucht im Alter von nur 19 Jahren mit Hilfe der Anonymen Alkoholiker in Griff. Er wollte zunächst Koch werden, wie sein Vater. Aber seine Mutter bot ihm 100 Dollar, wenn er statt des Hauswirtschaftskurses an der High School den Schauspielkurs belegen würde. Dieses Angebot nahm er an und widmete sich ab diesem Zeitpunkt voll und ganz seinem Talent, der Schauspielerei. Er machte in den 90er Jahren zunächst in THIS BOY’S LIFE an der Seite von Leo di Caprio von sich zu hören, war Teil des Schauspielensembles in DER EISSTURM von Ang Lee, und in PLEASANTVILLE - ZU SCHÖN UM WAHR ZU SEIN hatte er mit nur 23 Jahren dann seine erste Hauptrolle. Sam Raim verschaffte ihm dann den Durchbruch als Spider-Man. Fünf Jahre nach seinem Einstieg als Superheld, stieg er dann zum dritten und letzten Mal wieder wieder in sein rot-blaues Kostüm. Danach wurde es etwas ruhig um den legendären Peter-Parker-Darsteller. 

Nach dem Ausstieg aus der Heldensage, übernahmen Andrew Garfield und zuletzt, wie vorhin erwähnt Tom Holland in CAPTAIN AMERICA 3: CIVIL WAR die Rolle des Spider-Man. Der 1996 in Royal Borough of Kingston upon Thames, also in London geborene Thomas Stanley Holland ist der älteste von vier Söhnen von Dominic Holland, einem Comedian und Autor, und dessen Frau Nicola Elizabeth - einer Fotografin. Im Alter von neun Jahren begann er zu tanzen und wurde 2006 von der Choreographin Lynne Page entdeckt. Mit ihrer Hilfe gelang es Holland, 2008 in BILLY ELLIOT THE MUSICAL die Rolle von Michael, Billys bestem Freund zu bekommen. Bereits im September desselben Jahres verkörperte er die Hauptrolle. Seine Karriere bei Film und Fernsehen begann 2010, als er für den Zeichentrickfilm ARRIETTY - DIE WUNDERSAME WELT DER BORGER eine der Hauptrollen synchronisieren durfte. Keine Frage: der junge Mann, der bereits mit dem Saturn Award, dem Goya und dem Young Artist Award ausgezeichnet wurde, hat Talent. Aber auch das entsprechende Vitamin B... Er hat vielleicht seinem Vorgänger etwas mehr Körperlichkeit voraus, denn seine Erfahrungen als Tänzer und Akrobat waren ihm als „Wolkenkratzer hochkraxelnden Spinnenmann“ von Vorteil. Mir persönlich ist ein wortgewandter und sympathischer Spider-Man mit seinen Ecken und Kanten, und einer gewissen spitzbübischen Ausstrahlung, die aber im nächsten Augenblick auch den tragischen Momenten im Leben von Peter Parker weichen und die Maguire gnadenlos ehrlich zum Ausdruck bringen kann, lieber als ein Flik-Flak beherrschender Pseudoheld mit - wie meine Kritikerkollegen es in nahezu schleimig- anbiedernder Art schreiben - „der Anmut eines Athleten“, der seiner Figur Flügel beschert hätte. Buaaach. Da scheint mir ist der Kritiker etwas über sein Ziel hinausgeflattert. 

Wie dem auch sei. SPIDER-MAN HOMECOMING ist der gescheiterte Versuch, die aktuellen Superhelden mit dem Genre der Coming-of-Age-Komödie zu verbinden. Actionreich: ja, spannend: durchaus, tiefgründig und überzeugend: wohl kaum. Es fehlt an Intensität, an Charakterentwicklung, der Funke will nicht zünden und schließlich kann HOMECOMING auch nicht mit einem solch legendären Filmkuss aufwarten, wie in SPIDERMAN THE BEGINNING. 

Die Fortsetzung des Films THE FIRST AVENGER: CIVIL WAR von 2016, die unter der Regie von Jon Watts entstanden ist, und im Juli letzten Jahres in die Kinos kam, erzählt die Geschichte des in New York lebenden 15-jährigen Peter Parker. Eine kleine Hintergrundinfo an dieser Stelle: Der Engländer Tom Holland musste sich den amerikanischen Akzent antrainieren. Wäre natürlich äußerst schwierig gewesen, in Amerika einen athletischen Nachfolger zu finden. Nur um es mal klar zu stellen: Tobey Maguire selbst war es, der das Angebot, Spider-Man weiterzuspielen, ablehnte. Er wollte sich nicht auf ewig dieser einen Rolle verschreiben. Und seine Darstellungen in DER GROSSE GATSBY, LABOR DAY, BAUERNOPFER - SPIEL DER KÖNIGE gaben ihm, wenn sie auch nicht so spektakulär aufgenommen wurden, wie SPIDER-MAN, durchaus recht. Er hat das Zeug zu mehr! 

Aber jetzt wieder zurück zum neuen Peter Parker: Er ist, wie sein bester Freund Ned, ein Außenseiter an der New Yorker Midtown High School und in Liz, die Präsidentin des akademischen Zehnkampfteams, verknallt. So weit nichts Neues. Dann aber sehen wir Peter dabei zu, wie er sich auf seinem Laptop die Szenen der Geschehnisse in Deutschland anschaut: Nachdem er als Spider-Man an der Seite von Tony Stark als Iron Man am Leipziger Flughafen gegen Captain Americas aufsässige Avengers vorgegangen war, hinterließ ihm Tony einen neuen Hightech-Spider- Man-Anzug, dessen viele Funktionen Peter nach und nach entdecken muss. Und da war er schon: mein Ausstieg aus dem Film. Denn die Charme des Superhelden, des netten Jungen aus der Nachbarschaft mit den sprühenden Spinnenweben war es doch, dass er ein Einzelkämpfer war, einer, der sich für seine Leute einsetzte, der sein Leben riskierte, um die Kriminellen in Schach zu halten und zu bekämpfen. Hier geht es nun um einen Teenager, der dazugehören will. Er will bei den Großen mitspielen: den Avengers. Erwachsenwerden ist aber etwas anderes, als bei den Erwachsenen etwas zu werden. 

Im Verlauf des Films wird Peter Parker fast schon zum nervigen kleinen Rotzlöffel, der nahezu täglich bei Tonys Sicherheitschef nachfragt, ober er für irgendeine Mission gebraucht wird. Die Anbiederung hat also der Kritikerkollege nicht erfunden, sondern konsequent weitergeführt.
Als Peter einen Überfall auf die Geldautomaten einer Bank verhindert - ja, seine Touren macht er noch, aber nur um das technologisch hochentwickelte Equipment zu testen - da tritt mit dem skrupellosen Waffenhändler Adrian Toomes ein neuer Bösewicht auf den Plan. 

Was genau diesen Bösewicht antreibt ist erstmal unwichtig. Denn es geht darum, dass Peter seine Chance wittert, sich als Superheld beweisen zu können und damit endlich in den erlesenen Club der Avengers aufgenommen zu werden. Aber dazu muss er erstmal die „Kindersicherung“ an seinem hochmodernen Anzug deaktivieren. Wir sind im Bilde. Letztlich wird Peter, der zunächst feststellen muss, dass Liz’ Vater hinter allem Übel steckt, die Anerkennung erhalten, die er sich so sehr von Tony Stark wünscht: sie steckt in einer Tüte und liegt auf seinem Bett. Ob das dann die ersehnte Heimkehr einer vagen Vaterfigur ist, wage ich zu bezweifeln... 



SIEBEN MINUTEN NACH MITTERNACHT - A MONSTER CALLS

"Wie beginnt die Geschichte?" "Mit einem Jungen, zu alt, um noch ein Kind zu sein, zu jung, um schon erwachsen zu sein. Er rief nach einem Monster..."
Ein Junge schlägt sich durchs Leben, das es nicht gerade gut mit ihm meint. Seine Mutter ist an Krebs erkrankt, der Vater wohnt mit seiner neuen Familie in Amerika, und seine Großmutter ist eine eiserne, gefühlskalte Lady, deren Habseligkeiten scheinbar das Wichtigste für sie sind. Da kommt ihm ein Monster in Gestalt einer Eibe genau zu rechten Zeit, obwohl Conor O’Malley, wie der 12-jährige Teenager heißt, zunächst der gegenteiligen Meinung ist. Als hätte er nicht schon genug unter den Mobbing-Attacken einiger seiner Mitschüler zu leiden, machen ihm seine Alb- und Tagträume schwer zu schaffen… So könnte man die fantastische Geschichte SIEBEN MINUTEN NACH MITTERNACHT in wenigen Worten wiedergeben. Aber man hätte nur einen Bruchteil dessen erzählt, worum es hier wirklich geht. Man würde die innige Beziehung zwischen Conor und seiner Mutter außen vor lassen. Und genau um diese Liebe geht es; darum, wie schwer es einem jungen Menschen - der schon zu alt ist, um als Kind bezeichnet zu werden und noch zu jung, um als Erwachsener durchzugehen - fallen muss, die einzige Bezugsperson zu verlieren, die er hat. Dazu ist Conors Mutter eine verständige, geduldige, kreative junge Frau, die Conors Phantasie schon früh zu wecken wusste, die ihm von klein auf zeigte, dass es nichts gibt, was er nicht - dank seiner Vorstellungskraft - erreichen könnte. Eine so liebevolle, warmherzige Person zu verlieren, sie missen zu müssen, das ist kaum ertragbar. Sie leiden sehen zu müssen, und dabei zuzusehen, wie sie von Therapie zu Therapie, von Krankenhausaufenthalt zu Krankenhausaufenthalt immer schwächer wird, das kann ein Kind zerbrechen. Conors Rettung ist seine Fantasiewelt. Es ist seine Stärke aber auch seine Schwäche zugleich. Denn an der Schule wird er als verschrobener Träumer gesehen, und von seinem Mitschüler Harry und dessen Freunden regelmäßig verprügelt. Er kann nicht verstehen, warum Harry es auf ihn abgesehen hat und was er falsch gemacht hat, um dies alles erleben zu müssen. Auch die strenge Großmutter ist da keine große Unterstützung für Conor. Sie ist herrisch, und ihre „Einladung“ zu sich nach Hause, damit sich jemand um ihn kümmert, bringt den Jungen aus der Fassung. Er soll sein gewohntes Umfeld verlassen und nicht mehr bei seiner Mutter sein dürfen, um in einem Haus zu wohnen, das einem Museum gleicht? In dem es mehr Regeln gibt als Leben und Liebe? Ihr gegenüber kann er seine Gefühle offensichtlich nicht mitteilen. Doch wem kann er sich dann offenbaren? Wer könnte ihm seine Angst nehmen, die ihn jede Nacht heimsucht, die ihn träumen lässt, wie die alte Kirche in der Nähe seines Hauses einstürzt und wie sich ein Abgrund auftut, in dem eine geliebte Person hinabzustürzen droht? Seine Emotionen verarbeitet er, indem er zeichnet. Eines Nachts, genau um sieben Minuten nach Mitternacht, als er wieder vor einem seiner Bilder am Schreibtisch sitzt, hat sich eine große Eibe auf dem Friedhofshügel neben der Kirche, die er durch sein Fenster hindurch sehen kann, plötzlich in ein knorriges Monster verwandelt. Und der Baum, der rote Funken sprüht, kommt langsam auf ihn zu. Er spricht Conor an, sagt ihm, dass er ihn besser kenne als er sich selbst und dass er ihm drei Geschichten erzählen werde. Die vierte aber will er von Conor hören. Diese Geschichte wird seine Wahrheit sein; sein Albtraum, und vielleicht das Ende seines Leidens…
Bevor Conor die Geschichten zu hören bekommt, besucht ihn sein lange abwesender Vater und bringt seinem Sohn etwas Normalität zurück. Er darf für kurze Zeit wenigstens wieder Spaß haben, lachen, ausgelassen sein. Doch außer einer Einladung zu Weihnachten nach L.A. hat sein Vater ihm nicht mehr zu bieten. Er hat keinen Platz für ihn - weder in seiner Wohnung, noch in seinem Leben, wie es scheint. Er kehrt zurück und Conor muss notgedrungen zu seiner Oma, da sich der Gesundheitszustand seiner Mutter verschlechtert hat. 
Die Eibe indes hält sein Versprechen: Die Geschichten, die das hölzerne Monster mit den abstehenden Zweigen und Ästen erzählt, handeln von Märchenfiguren, wie man sie kennt: ein König, ein Prinz, eine Stiefmutter, eine arme Bauerntochter, ein Naturheiler, ein Pfarrer und dessen kranke Töchter, ein unsichtbarer Mann, der es nicht mehr sein wollte… Anders als in den üblichen Geschichten sind diese Figuren aber nicht eindeutig gut oder böse. So macht ihm das Monster klar, dass Conor seiner Großmutter vertrauen darf, dass auch sie eine zweite Chance verdient hat; der Junge lernt, dass Heilung vom Glauben abhängt, und dass man den Glauben nicht aufgeben darf. Es zeigt ihm, dass er es selbst in der Hand hat, gesehen, geachtet und respektiert zu werden. Conor erkennt durch die Hilfe des Monsters sich selbst und sieht, was in seinem Innersten schlummert: neben der Angst um die Mutter ist da noch etwas: der Wunsch, es enden lassen zu wollen. Und schließlich steht die Eibe ihm beim herbsten aller Schicksalsschläge bei, die ein Mensch durchstehen muss. Das ist Conors Wahrheit, seine Geschichte, kein Happy End im eigentlichen Sinne, aber ein Hoffnungsschimmer. Seine Mutter hinterlässt Conor ihre Zeichnungen - darin finden sich die Geschichten des Baumes wieder, auf dessen Schulter ein Mädchen sitzt…

Ein Monster kann einem Angst einjagen, es kann einem aber auch Ängste nehmen. Es kann diese Form eingenommen haben, um zu verheimlichen, wer eigentlich dahinter stecken mag. Vielleicht Conors Großvater, den der Junge im Haus seiner Großmutter auf einem Foto sieht, das den Großvater mit einem kleinen Jungen im Arm zeigt? Der kleine Junge ist Conor. Und der Großvater auf dem Foto wird von Liam Neeson dargestellt, der wiederum dem Monster seine Stimme verlieh. Wie könnte ein liebender Großvater zulassen, dass sein Enkel dies alles alleine durchmacht, ohne spürbare Hilfe zu bekommen? Wie könnte er, egal wo er sich befinden mag - in einer Eibe zum Beispiel - tatenlos zusehen, wie seine Frau, Conors Oma, ihren harten, strengen Kurs aufrechthält, statt dem Jungen ein wenig Spielraum zu gewähren, um seine Gefühle verarbeiten zu können? Die Strafe des ehemals lebenden Gatten kommt prompt: Ermutigt durch das Monster schlägt Conor das Wohnzimmer der Großmutter mit all ihren liebgewonnen Möbelstücken und Dekoartikeln klitzeklein. Was dem Jungen natürlich im Nachhinein sehr leidtut.
Die Großmutter ist zwar erschüttert, aber nach dem ersten Schock wird sie einsichtig: „Es gibt wichtigeres…“
Die Annährung und Versöhnung zwischen ihr und dem Jungen ist geglückt. Er bekommt in dem Haus seiner Großmutter ein neues Zimmer, das dem alten gleicht und findet auf dem Schreibtisch ein Heft mit dem Namen seiner Mutter: Lizzie O’Malley.

In feinsten Zeichnungen und liebevoll inszeniert erzählt Regisseur Juan Antonio Bayona in seinem tief berührenden, herzergreifenden Fantasyfilm SIEBEN MINUTEN NACH MITTERNACHT (Originaltitel: A MONSTER CALLS), basierend auf dem gleichnamigen Roman des amerikanischen Schriftstellers Patrick Ness, von Verlust, vom Loslassen und von einer unbezwingbaren Kraft, die in unserer Imagination steckt. Das Original-Buch ist von einer Idee von Siobhan Dowd inspiriert, deren unerwarteter Tod verhinderte, dass sie die Geschichte selbst aufschreiben konnte. Die Autorin starb vor zehn Jahren, nach drei Jahren Krankheit, im Alter von 47 an Brustkrebs.
Ihr Vermächtnis an uns ist dieses von Patrick Ness und Bayona vollendete Leinwandwerk, das einen garantiert nicht unbekümmert zurücklassen wird.
 



I never saw a documentary like this one before! It’s the most heart-melting non-fiction movie! A documentary about cats and about the people of Istanbul you never get to see usually on TV… Kinotante

KEDI - VON KATZEN UND MENSCHEN von Ceyda Torun mit Bülent Üstün ist der langerwartete und langersehente Film aller Katzenliebhaber - und das scheint, den sozialen Medien nach zu urteilen, jede Menge Männlein und Weiblein und Kindlein zu sein. Und zur großen Überraschung der Filmsichtenden entdeckt man zugleich auch sein Faible für die Türkei bzw. für Istanbul. Vergesst für ne Weile Erdogan - was bei diesem Filmgenuß nicht allzu schwierig werden wird - und lasst euch von den beeindruckenden Kamerafahrten auf Istanbuls Straßen entführen, vergesst den Alltag und taucht in die miauische Welt der kleinen Fellfreunde ein, die sich hier ein kleines Paradies errichtet haben, in dem die Menschen ihnen Nahrung und ein Dach über dem Kopf bieten, Streicheleinheiten und Zusprache, Aufmerksamkeit, ja - man könnte durchaus von Liebe sprechen!
Tausende von Katzen streifen täglich durch die Straßen von Istanbul. Sie gehören niemandem und sind doch ein fester Bestandteil der Gesellschaft. Frei, unabhängig und stolz leben sie seit vielen Jahren inmitten der Menschen, schenken ihnen Ruhe und Freude, aber lassen sich nie besitzen. Ceyda Toruns faszinierender Dokumentarfilm begleitet sieben von ihnen durch den Alltag; jede einzelne der Katzen ist einzigartig und von außergewöhnlichem Temperament. Die Kamera folgt ihnen durch lebhafte Märkte, sonnige Gassen, Häfen und über die Dächer der Stadt - und fängt ihre besondere Beziehung zu den Menschen ein, deren Leben sie nachhaltig beeinflussen.
Ich habe von KEDI kurz nach seiner Fertigstellung gehört und den Film kennengelernt, da war es noch nicht klar, ob der Film einen deutschen Verleih findet. Ich war hin und weg von dieser Dokumentation, die ich so noch nicht erlebt habe. Es ist der herzerweichendste nicht-fiktionale Film, den ich je gesehen habe. Ein Dokumentarfilm über Katzen und über die Menschen in Istanbul, den man selten oder gar nicht, weder im Kino noch im Fernsehen für gewöhnlich zu sehen bekommt. Als Katzenbesitzerin - wir haben zwei - erkenne ich die Einzigartigkeit dieser Wesen wieder. Und ich bin mir sicher, dass KEDI - VON KATZEN UND MENSCHEN den hiesigen Zuschauern nahebringen wird, wie liebenswürdig die Bewohner Istanbuls sind. Ich zumindest habe mich sowohl in die kätzischen als auch in die menschlichen Protagonisten verliebt!


DAS KALTE HERZ

"Schatzhauser im grünen Tannewald, bist schon viel hundert Jahre alt. Dir gehört all Land, wo Tannen stehn - lässt dich nur Sonntagskindern sehn"

Einer der Höhepunkte im August war neben dem neuerlichen Besuch von Wolf Gaudlitz, die Preview der unter anderem in Loßburg gedrehten Neuverfilmung des Schwarzwälder Märchens DAS KALTE HERZ. Wilhelm Hauff brachte es im Jahr 1827 in seinem Märchen-Almanach heraus. Es wurde in zwei Teilen als Binnenerzählung in die Geschichte "Das Wirtshaus im Spessart" eingebettet.
Für die Neuverfilmung zeichnet der aus Baden-Baden stammende Regisseur Johannes Naber verantwortlich, der sich bereits mit Filmen wie NORDWAND, DER ALBANER oder ZEIT DER KANNIBALEN einen Namen in der deutschen und internationalen Filmlandschaft gemacht hat. Für seine vierte Regiearbeit verfasste Naber gemeinsam mit Christian Zipperle, Steffen Reuter und Andreas Marschall auch das Drehbuch und engagierte für die Haupt- und Nebenrollen Frederick Lau, Henriette Confurius, David Schütter,  Sebastian Blomberg, Roeland Wiesnekker, Jule Böwe und Moritz Bleibtreu und Milan Peschel. Zwei Monate vor dem Bundesstart fand die exklusive Premiere des Märchenfilms am 20. August im Subiaco Kino, Open Air im Kreuzgarten statt.
Für die Geschichtsunkundigen hier noch die Handlung des Hauff'schen Märchens: Der mittellose Peter Munk, Kohlenmunk-Peter genannt, lebt zusammen mit seiner Mutter und seinem Vater auf einem Köhlerhof im Schwarzwald. Das Geschäft läuft schlecht und die reichen und wohlhabenden Bürger des Dorfes erniedrigen die Köhler in einem fort.
Trotz des Standesunterschieds verliebt sich Peter in Lisbeth, die älteste Tochter des Glasmachers Löbl. Lisbeth ist die Tanzbodenkönigin und dem Sohn des Holzhändlers, Bastian, versprochen. Peter glaubt, dass er nur mit Reichtum und Ansehen Lisbeths Herz erobern kann. So macht er sich auf den Weg zum Glasmännle, einem sagenumwobenen Waldgeist. Auf dem Weg dorthin, im dunklen Wald, trifft er den gefährlichen Holländer-Michel - ein angsteinflößender Mann, der ihm Geld und Hilfe anbietet. Peter schlägt das Angebot aus und findet das Glasmännlein. Der alte Waldgeist kann jedem Sonntagskind, das zwischen elf und zwei Uhr geboren ist, drei Wünsche erfüllen. Peter wünscht sich von ihm, der beste Tänzer im Dorf zu sein, immer so viel Geld wie der Holzhändler Etzel in den Taschen zu haben und das schönste Glasmacher-Haus im Schwarzwald zu besitzen. Schon bald spielt und verliert Peter beim Würfelspiel gegen den reichen Etzel, hat aber dadurch genauso viel Geld in den Taschen wie sein Kontrahent. Mit dem gewonnenen Reichtum ersteigert er eine leerstehende Glasmacherhütte und beginnt als Glasmacher zu arbeiten. Zwei Wünsche wurden erfüllt und auch sein dritter Wunsch erfüllt sich, als er im Tanzduell gegen Bastian zeigen kann, dass er der beste Tänzer ist. Doch das Glück ist für Peter nur von kurzer Dauer, denn jemand aus dem Dorf hat seinen Vater ermordet. Die Liebe zwischen Lisbeth und Peter wird tiefer. Als das Geld aufgebraucht ist und die notwendigen 500 Taler für eine Hochzeit fehlen, versucht er durch ein Würfelspiel gegen Etzel abermals an Geld zu kommen. Etzel verliert das Spiel und hat kein Geld mehr in der Tasche, und auch Peter verliert daraufhin all sein Geld, ganz nach seinem Wunsch, immer so viel wie Etzel zu besitzen. Der Unglücksrabe sieht nur noch eine Lösung: beim Holländer-Michel um Geld zu bitten. Dieser bietet ihm an, sein Herz gegen eines aus Stein zu tauschen, wofür er Peter reichlich entlohnen würde. Nachdem Peter sein Herz verkauft hat, geht er nach Holland. Als er zurückkommt, hat er sich sehr verändert. Er ist gefühllos und berechnend, kann sich an nichts mehr erfreuen und weder lachen noch weinen. Er kann schließlich auch keine Liebe mehr empfinden. Lisbeth weigert sich daher, ihn zu heiraten. Peter realisiert, was mit ihm geschehen ist und sucht abermals den Holländer-Michel auf, um sein Herz zurückzufordern...

Wie im Original, ist der verzweifelte Kohlemunk-Peter eigentlich ein gutherziger, aber einfältiger Knabe, der sich seine Wünsche und vor allem seinen Handel mit dem Holländer-Michel nicht so recht durch den Kopf gehen lässt. Eigentlich will er nur Lisbeths Herz erobern und muss letztlich zu seinem Bestürzen feststellen, dass er genau hier zu scheitern droht.

Wilhelm Hauffs Geschichte fällt in die spätromantische Literaturphase nach den scharfen Zensurbestimmungen der Karlsbader Beschlüsse aus dem Jahre 1819. Seine Schwarzwaldsage DAS KALTE HERZ ist, neben den Märchen "Die Geschichte vom kleinen Muck", "Zwerg Nase" und dem von Wilhelm Grimm übernommenen "Schneeweißchen und Rosenroth", die bekannteste seiner Sagen.
Regisseur Johannes Naber hat nicht nur das altbekannte Märchen zu neuem Leben erweckt, er hat es geschafft, sie orginialgetreu unserer heutigen Sehgewohnheit anzupassen, somit eine universelle Heimatgeschichte für die Leinwand zu kreieren, die wegweisend ist und die viele Facetten menschlicher Existenz aufgreift: Liebe und Eifersucht, Familienbande und Zerwürfnisse, Selbstzweifel und Größenwahn bis hin zur zerstörerischen Selbstüberschätzung. "Ihr wollt Herrscher über der Welt sein", sagt der Waldgeist, das Glasmännchen, am Ende, sich an die Zuschauer wendend. "Dann macht was draus!" Aus einer kleinen Geschichte, die bis heute wirkt, hat das Filmteam zumindest schonmal etwas Großes auf die Beine gestellt. Etwas, was auch der Nachwelt von Bedeutung sein wird. Es ist nicht nur ein Film, den man staunend betrachtet, den man sich abermals anschauen kann, sondern eine heimische Legende, die viel über das Leben im Schwarzwald des 18. und 19. Jahrhunderts preisgibt und dennoch grundsätzliche, menschliche Eigenschaften thematisiert, die auch heute noch von Bedeutung sind.

Gedreht wurde DAS KALTE HERZ nicht nur in Loßburg (4 Tage auf dem Walterhof in Loßburg-Schömberg), sondern auch in Oberried am Schluchsee (15 Drehtage), im Elbsandsteingebirge bei Wuppertal und im Studio Babelsberg, wo bereits die gleichnamige DEFA-Verfilmung von 1950 mit Erwin Geschonneck enstanden ist. Übrigens kann man sich dieses klassische Filmwerk im Wilhelm-Hauff-Museum in Baiersbronn, das einige erinnerungswürdige Ausstellungsstücke beherbergt, ansehen. Hier findet sich auch die "Glasmännlehütte" und natürlich kann man sich auch einen Einblick in die traditionellen Berufe des Schwarzwaldes - Köhler, Glasmacher, Holzhändler - verschaffen.
DAS KALTE HERZ von Johannes Naber, wird am 20. Oktober bundesweit in den Kinos gezeigt. I tät' eich empfehle, neizugehe! 



Spieglein, Spieglein, was verbirgt sich hinter dir? Vielleicht ein anderer Teil von mir?

ALICE IM WUNDERLAND 2: HINTER DEN SPIEGELN

ALICE IM WUNDERLAND war schon ein Leinwandknüller, ALICE IM WUNDERLAND 2: HINTER DEN SPIEGELN, der am 26. Mai bundesweit in die Kinos kommt, setzt dem noch die Krone auf! Diesmal geht es weniger brutal zu, mehr metaphysisch; es geht nicht um Kämpfe, noch darum den Jabberwocky am Blumertag zu besiegen, diesmal geht es um das Leben ihres treuen Freundes, dem Verrückten Hutmacher. Und um die Zeit, die merkürdigerweise ein "er" ist; es geht darum, sich für andere einzusetzen, aber auch zu lernen, dass man Dinge nicht ungeschehen machen kann... Doch eins nach dem anderen und bloß nicht zu viel verraten: HINTER DEN SPIEGELN setzt dort an, wo ALICE IM WUNDERLAND aufhört. Alice Kingsleigh hat drei Jahre damit zugebracht, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten und mit ihrem eigenen Schiff über die sieben Weltmeere zu segeln. Wieder zurück in London entdeckt sie, dass sich zwar viel geändert hat, die konservativen Kreise und Greise sind jedoch nach wie vor existent und ihr Erscheinen im Haus der Ascots bringt alte Konflikte wieder zum Vorschein. Auf der Flucht vor dem abservierten Ex-Verlobten, sieht Alice Absolem, der sie zu einem magischen Spiegel führt. Durch den Spiegel gelangt sie zurück in die fantastische Welt von Unterland. Dort trifft sie alle ihre alten Freunde: das Weiße Kaninchen, die Grinsekatze, die Haselmaus, den Märzhasen, Diedeldum und Diedeldei, den Bandersnatch - der nun zum Kreis ihrer Freunde gehört - und natürlich den Verrückten Hutmacher, der aber nicht mehr er selbst ist. Er hat sein Mehrsein verloren. Der Grund: er erinnert sich plötzlich wieder daran, wie er seine Familie verloren hat. Der Kummer darüber hat dem Hutmacher die Lebensfreude genommen. Um ihm zu helfen, schickt die Weiße Königin Mirana Alice los, nach der Chronosphäre zu suchen, einer Metallkugel im Inneren der Großen Uhr, von der alle Zeit ausgeht. Mit ihrer Hilfe kann Alice eine Reise in die Vergangenheit antreten, um die Familie des Hutmachers zu retten.
Die Rote Königin Iracebeth lebt indes immer noch im Exil. Auch sie hat es auf die Chronosphäre abgesehen.
Für Alice ist diese Mission ein gefahrenvoller Wettlauf mit der Zeit, um den Verrückten Hutmacher zu retten, bevor sein letztes Stündlein geschlagen hat... im wahrsten Sinne des Wortes!

In ALICE IM WUNDERLAND: HINTER DEN SPIEGELN begegnen wir den unvergesslichen Figuren aus Lewis Carrolls beliebten Geschichten in einem neuen, farbgewaltigen, exorbitant-fantastischen Filmabenteuer wieder. Dabei interpretiert Regisseur James Bobin (Boubin) auf faszinierende Weise die spektakuläre Welt neu, die Tim Burton vor sechs Jahren erschaffen hatte. Tim Burton selbst blieb dem Film als Produzent verbunden.
Seit Jahren redeten Burton und seine Co-Produzenten, u.a. Suzanne Todd, über eine Fortsetzung von ALICE IM WUNDERLAND. Obwohl vieles unklar war, stand eines jedoch fest: Es würde sich nicht um eine unmittelbare Adaption des zweiten "Alice"-Buchs handeln, das Lewis Carroll sechs Jahre nach seinem ersten Werk verfasste und das aus biografischen Fragmenten bestand. Linda Woolverton lieferte sodann den Nachfolger ihres Drehbuchs zu ALICE IM WUNDERLAND - eine Fassung, die im Geist der Abenteuer von Carrolls dynamischer Figuren stand und mit viel Fantasie und Herz angereichert war. Suzanne Todd erklärt: "Linda hatte eine völlig neue Geschichte geschrieben, die von dem Buch inspiriert war und all den Figuren folgt, die wir im ersten Film liebgewonnen haben. Wir erleben, was mit ihnen seit dem ersten Film passiert ist. Und wir folgen ihnen in ihre Vergangenheit und erfahren noch mehr über sie."
Auch Johnny Depp, der den Verrückten Hutmacher spielt und seit langem ein begeisterter Fan der Geschichten von Lewis Carroll ist, war davon angetan, wie respektvoll Woolverton mit der Buchvorlage umgegangen ist.
Regisseur James Bobin war vom Konzept von Zeit und der Vergangenheit, die man verändern will, immer schon fasziniert. Ihn interessieren auch die Fragen, die sich automatisch daraus ergeben. Und das passte perfekt zu der von Woolverton ausgedachten Geschichte, die diese neuen Themen bereitwillig in ihr Drehbuch einfließen ließ. So war die Figur der Zeit - halb Mensch, halb Uhrwerk - geboren.
"Der Fluss der Zeit ist etwas", sagt Bobin, "das Alice immer als eine schlimme Sache betrachtet hat, weil Zeit ihr schon in frühen Kindheitstagen ihren Vater genommen hat. In dieser Geschichte lernt sie nun, dass Zeit nicht ihr Feind ist.."

Was für mich, eurer Kinotante, die Besonderheit dieser neuen, zweiten ALICE-Verfilmung ist? Nun, es sind trotz der CGI-Effekte und dem rasanten Tempo die leisen Töne, die Hinwendung zu den Figuren und ihren Schicksalen. Wer Alice im ersten Teil kennengelernt hat, weiß, dass sie mit Wunderland so gut wie abgeschlossen hatte. Sie kehrte zurück zu ihrer Mutter und der Hochzeitsgesellschaft, räumte in ihrer Welt auf und erfand sich neu, gondelte in der Weltgeschichte umher. Frei nach dem Motto: Brave Mädchen kommen in den Himmel, träumerisch-rebellische überall hin. Doch gleich nach ihrer Ankunft in London, als die neue Alice auf alte Muster und Strukturen, auf Missgunst und Feindseligkeit trifft, führt sie ihr Weg unweigerlich in die Zauberwelt zurück. Durch einen magischen Spiegel! Viel psychologisches Vorwissen ist nicht nötig, um hier Lewis Carrolls geniale Metapher zu erkennen: die Anwendung eines Kindermärchens, und in ihm der Spiegel als zentrales Motiv (was zuvor, im ersten Teil, der Traum war), wird unter Psychologen wie Jacques Lacan, Carl Rogers oder Heinz Kohut als eines der wichtigsten Elemente der Introversion, der Innenkehr beschrieben. Nicht umsonst ist Alice' Aufenthalt in einer psychiatrischen Einrichtung Teil der neuen Geschichte. Und das Unverständnis, die Empathielosigkeit, die die Ärzte ihr gegenüber an den Tag legen auch.
Es gibt noch andere Hinweise auf die psychoanalytische Dimension, die im Vorgängerfilm bzw. dem Buch angelegt wurden und hier weitergesponnen werden: als Alice ihren Vater fragt, ob sie den Verstand verloren habe, als der Hutmacher Wunderland erklärt...
Und auch der Dialog zwischen Alice und der Grinsekatze im ersten Teil deutet darauf hin, dass wir uns mit Freud als ständigen Begleiter wieder aufs Neue nach Unter- oder Wunderland hineinbegeben:
"Aber ich möchte nicht unter Verrückte kommen", meinte Alice. "Oh, das kannst du wohl kaum verhindern", sagte die Grinsekatze: "Wir sind hier nämlich alle verrückt. Ich bin verrückt. Du bist verrückt." "Woher willst du wissen, dass ich verrückt bin?" erkundigte sich Alice. "Wenn du es nicht wärest", stellte die Grinsekatze fest, "dann wärest du nicht hier."
Nun ist es also Tarrant Hightopp, der Verrückte Hutmacher, der verrückter denn je ist. Die Trauer hat ihn den Verstand verlieren lassen, heißt es. Aber könnte nicht Tarrant in Wirklichkeit eine Spiegelung von Alice sein? Derjenige Teil in ihr, der den Tod des Vaters noch nicht verarbeitet hat? Und könnte nicht auch die Weiße Königin ein Teil von Alice sein, die sich plötzlich ihrer eigenen Verantwortung gegenüber einer harmonischen Mutter-Tochter-Beziehung gewahr wird? Die sich auch eingestehen muss, selbst nicht perfekt zu sein? Weder von Sinnen noch über allem Erhaben...
Die Reise nach Wunderland ist demnach - was keine neue Erkenntnis ist, sondern mindestens so alt, wie die Bücher selbst - eine innere Reise. Die herangewachsene, 19-jährige Alice hatte ihre Abenteuer im Wunderland zwar erfolgreich verdrängt, doch in ihren Träumen wurden die Erlebnisse, die Jahre zurücklagen, wieder lebendig. Waren es vor allem Ängste, die sie im ersten Teil heimsuchten - verkörpert durch monströse Wesen - und auch unerfüllte Wünsche nach Anerkennung und Trost, sind es hier Verlust und der Wunsch danach, etwas zurückzuholen aus einer Zeit, in der alles noch in Ordnung war. 
So kehrt Alice, eine der ersten Feministinnen in der männlich-dominierten, viktorianischen Gesellschaft und vielleicht die erste emanzipierte junge Frau in einem Kinderbuch überhaupt, dorthin zurück, um Krisensituationen zu klären. Sie scheint diesmal gefestigter, selbstbewusster - und doch liegen unverarbeitete Kindheitserlebnisse hinter ihr, die sie aufzulösen sucht, um mit sich selbst ins Reine zu kommen, aber auch mit der Außenwelt.
Einfühlsamer und spannender hätte man dank James Bobin, der die farbenfrohe, skurrile Welt Lewis Carrolls und Tim Burtons in ausgezeichneter Weise neu auf die Leinwand zaubert, die Themen um Selbsterkenntnis, Entfremdung, Selbstfindung, Verlust der Sinnhaftigkeit der Welt, Neu-Orientierung und Versöhnung - sowie die Mahnung, die Zeit zu achten - nicht filmisch umsetzen können. Klingt jetzt komisch, man kann es aber auch so sehen: ALICE IM WUNDERLAND 2 ist genau genommen ein fantastischer Kino-Trip, aus dem es kein böses Erwachen gibt.



THE HATEFUL 8
An all-American, damn-bloody history                                                          

Ist es brutal, ist es genial? Ist es "Cinemascope"*? Ja? Dann ist es ein Tarantino-Streifen!
Seit RESERVOIR DOGS gehört Quentin Tarantino zum heißen Eisen unter den Autorenfilmern. Er weiß, wie man inszeniert: seien es die Straßen L.A.'s, Downtown Area, wo sich seine stilsicheren Gangster und Killer aufhalten, oder die Prärie, in der die Cowboys, Kopfgeldjäger und Banditen in Slow Motion, begleitet von einer tragenden 60er-Jahre-Titelmelodie von ihren glänzend gestriegelten Pferden mit goldschimmerndem Halfter absteigen, die Zigarette im Mundwinkel, den Hut tief ins Gesicht gezogen, eine Blutspur hinterlassend...
Für seinen achten Film hat sich der Kultregisseur wieder einmal den Italowestern zu eigen gemacht, dem er als Sohn eines Amerikaners mit italienischen Wurzeln schon in frühen Jahren verfallen ist. Kein Wunder, wenn die Eltern den kleinen Quentin nach Quint Asper, einer Figur aus der Westernserie "Rauchende Colts" benannten! Als Teenager hatte er bereits ein solch umfangreiches Filmwissen, dass er in seinen frühen Drehbüchern Filmzitate verwendete, vorzugsweise aus asiatischen Filmen und natürlich dem Western.
Er weiß, wie er den wilden Westen darstellen muss, damit er authentisch, nah und doch hochstilisiert zugleich wirkt. Der Clou in seinem neuen Werk: Er brachte die Filmmusik-Koryphäe Ennio Morricone dazu, nach über 40 Jahren wieder Filmmusik für einen Western zu komponieren. Das schafft unter den modernen Filmemachern nur er. Und nur er schafft es, die Blütezeit des Genres wiederzubeleben, während er konsequent Sozialkritik übt an die weißen Eroberer, deren rauchende Colts seine indianischen Vorfahren auf dem Gewissen haben; die Sklaventreiber waren und unter denen die Frauen nicht viel zu lachen hatten. Da wurde die Schrotflinte nicht selten zum besten Freund einer alleinstehenden Rangerin. Seine Jungs sind knallharte, zähe Burschen, die Frauen haben Haare auf den Zähnen, die manchmal einzeln ausgespuckt werden, weil sie sich mit ihnen angelegt haben. Die malerischen Breitbild-Kulissen und liebevoll dekorierten, in wärmendem Licht gehaltenen Interieurs bilden den Kontrast zu den gewaltvollen Ereignissen, zu dem Blut und dem Gemetzel. Der Mythos eines Sergio Leone wird herangezogen und um die Besiedlungsgeschichte ergänzt, neu definiert. Quentin ist der Godfather of all-American, damn-bloody history!
Dabei knüpft er eigentlich an den Ursprung des Genres an, in dem die oftmals beschworenen "amerikanischen" Tugenden - Anständigkeit, Ehrlichkeit und Altruismus - ins Spiel gebracht werden. In THE HATEFUL EIGHT spürt Tarantino den Wurzeln allen Übels nach, ausgehend vom letzten Gefecht aus Sicht eines Sklaven in DJANGO UNCHAINED, zum Post-Bürgerkriegs Szenario, in dem trotz offenkundiger Befreiung der afroamerikanischen Bevölkerung weiter diskriminiert und gehasst wird. So ist sein Film auch in Kapiteln unterteilt, die nicht gänzlich einer zeitlichen Chronologie folgen: bevor es zum großen Showdown kommt, gewährt uns der Regisseur einen Blick in die Ereignisse, die vor dem Filmbeginn stattgefunden haben. Und lässt uns über Helden und Antihelden bis zum Schluss im Zweifel. Gut und Böse, Schwarz und Weiß - die Grenzen verschwimmen in diesem auch gut als Theaterstück funktionierenden Kammerspiel. Gut ein Drittel dieses US-Western spielt sich nämlich in einem einzigen Raum ab: Minnies Kurzwarengeschäft wird zur Herberge für acht Personen, die im Schneesturm an einem Gebirgspass einander begegnen. In einer Kutsche sind zunächst John "der Henker" Ruth, seine Gefangene Daisy Domergue und der Kutscher O.B. Jackson unterwegs nach Red Rock um die Abrtünnige der Justiz zu überlassen. Das heißt, Daisy soll gehängt werden. Unterwegs treffen sie auf Major Marquis Warren - einem Kopfgeldjäger, der nicht lange fackelt, wenn es darum geht, die Gefangenen abzuliefern: bei ihm heißt "tot oder lebendig" eindeutig ersteres; alles andere wäre zu mühsam. In der Kutsche nimmt bald ein weiterer Fahrgast Platz: Chris Mannix, der neue Sheriff von Red Rock. Die Fronten sind gleich zu Beginn gesetzt und klar, aber werden sich im Laufe der Geschichte ein wenig verschieben. Dazwischen sind wir Zeugen einer formidablen Ensemble-Darstellung, um Samuel L. Jackson, der den Major Marquis spielt, Kurt Russell alias John Ruth, Jennifer Jason Leigh als Daisy, Walton Goggins in der Rolle des neuen Sheriffs Chris Mannix und James Parks als der Kutscher O.B. Jackson. In der Herberge trifft die illustre Truppe auf Bob "den Mexikaner" (Demián Bichir), der in Abwesenheit von Minnie den Laden schmeißt, auf den Cowboy Joe Gage (Michael Madsen), dem ehemaligen Konföderierten-General "Sandy" Sanford Smithers (Bruce Dern) und auf den eigentlichen Henker von Red Rock: Oswaldo "der kleine Mann" Mobray. Gespielt wird dieser von Tim Roth und wenn er Christoph Waltz in dieser Tarantino-Besetzung zum Verwechseln ähnlich sieht, ist es pure Absicht! Auf die gleiche schlitzohrmässige Weise, die fuchsgleiche Art, tritt Oswaldo wie Dr. King Schultz in Erscheinung. Sogar ein "Bingo" entspringt dem "kleinen Mann" - das ist jedoch aus einem anderen Tarantino-Film, in dem Waltz brilliert...
Ja, Quentin zitiert sich gerne selbst, nimmt Bezug zu eigenen Filmen und lehnt die Figuren an vorangehende Geschichten an, lässt sie von Film zu Film verwandt und verschwägert sein. Er arbeitet gerne mit einem Stammensemble zusammen - darunter Samuel L. Jackson, Michael Madsen, Tim Roth, Kurt Russell - und besetzt wiederkehrende Figuren neu; und er spielt auf Dialoge an, die sich in anderen seiner Geschichten wiederfinden. Damit entwirft er eine eigene Welt, in die die Tarantino-Kennerin eintauchen und sich anhand der klug eingefädelten Assoziationen und Verknüpfungen ihren oft höchstamüsanten Reim machen kann. Auch ohne Vorwissen, kann man sich dem Unterhaltungswert sicher sein. Allerdings geht einem doch etwas ab. Auf Nummer sicher sein heißt, sich die Vorgängerfilme ansehen, sämtliche Martial-Arts und B-Movies sowie die genannten Spaghettiwestern, insbesondere ZWEI GLORREICHE HALUNKEN und den Sleaze-Klassiker DER TOLLWÜTIGE reinziehen - und wo man schon dabei ist, sollte man unter anderem an die folgenden wiederkehrenden Elemente, Gegenstände und Konsumgüter nicht achtlos vorbeigehen: "Red Apple"-Zigaretten, Tierfell, Schnee, Jesus-Figur, sechsspännige Kutsche, Süßigkeiten, Live-Musik und Eintopf!


*Für die Fachleute: Das Format heißt natürlich Ultra Panavision 70 - mittels anamorphen Objektiven aus den 60er Jahren gedrehtes, mit einem Seitenverhältnis von 2,75:1 ultraweites Bildformat. Cinemascope ist im Prinzip dasselbe: ein anamorphotisches Verfahren der Breitbildaufzeichnung, das sich Twentieth Century Fox in den 1950er Jahren schützen ließ.
Ich bezeichne es in meiner Rezension als "Cinemascope" weil die meisten Kinogänger damit mehr anfangen können. Don't bite me for this!

*Zu den Hintergründen in Bezug auf die Produktion, dem sogenannten "Tarantino-Leak", und dem "politischen Statement" des Regisseurs, dem ein Polizeiboykott folgte, nehme ich bewusst keinen Bezug: das hat mit der Qualität des Films und der Perzeption nichts zu tun. Wer aber Näheres darüber wissen möchte, kann gerne die Kontaktfunktion nutzen und mir eine Frage stellen. Oder selbst googeln.



MY TALK WITH FLORENCE - EIN LEBEN IN DER KOMMUNE DES OTTO MÜHL
& DIE KINDER VOM FRIEDRICHSHOF

Vor ein paar Jahren, im November 2010 um genau zu sein, luden Liza und Sebastian Heinzel im Rahmen ihrer Reihe "Filmwelten"  die Regisseurin Juliane Großheim nach Loßburg ein. Im dörflichen Umfeld stellte die Berlinerin ihren Film DIE KINDER VOM FRIEDRICHSHOF einem interessierten Publikum vor. Anschließend wurde rege über das Gezeigte diskutiert. Es geht darin um die Kommune des Wiener Aktionskünstlers Otto Mühl: der Friedrichshof, eines der umstrittensten künstlerischen Experimente der 1970er Jahre, gegründet als Aktionsanalytische Organisation (AAO). Freie "Liebe", Gemeinschaftseigentum, die Auflösung traditioneller Muster, tradierter Werte, die Aufhebung von Familienstrukturen, und die Anerkennung und der Einsatz des Körpers als eigenes Kunstwerk, sollten das ideale Fundament für dieses Projekt bilden, das bis zu 600 Mitglieder anzog.
Die Kinder der Kommunarden wurden in besonderer Form in Otto Mühls Vorhaben miteinbezogen: Sie sollten die Träger seiner Utopie sein, die sogenannte "Dritte Generation", anhand der sich sein neuer Erziehungsstil bewähren sollte.
Im Jahr 1991 wurde Otto Mühl in Österreich wegen Kindesmissbrauch und Verstoß gegen das Suchtgiftgesetz zu sieben Jahren Haft verurteilt. Seine Kommune löste sich auf. Der harte Kern um Otto Mühl zog zuerst auf die Kanareninsel La Gomera, dann an die Algarve, nach Portugal. Das alternative Gesellschaftsmodell, das auf radikale Weise die Kleinfamilienstruktur aufbrechen wollte, gab es auf dem Friedrichshof in der Form nicht mehr; aber als "lockeres Gemeinschaftsleben" besteht die Kommune noch heute weiter - neu organisiert, "ideologiefrei", wie sie sich jetzt nennt. Mühl selbst lebte bis zu seinem Tod im Mai 2013 in Portugal.

Der mehrfach ausgezeichnete Film von Juliane Großheim porträtiert mit viel Feingefühl vier junge Erwachsene, die ihre Kindheit im Friedrichshof verbracht haben. Ihnen allen gemein ist der Verlust einer "normalen", unschuldigen, heiteren Kindheit, die Trennung von ihren Müttern und Vätern, das Leben in einer strikten Hierarchie und das Befolgen von Befehlen, die bis zum Äußersten gingen. Anstelle der propagierten Freiheit und Gleichheit, mit der man das Kommunenleben oft in Verbindung bringt, trat hier ein Demagoge, ein faschistoider Herrscher in Erscheinung, der dem Einzelnen kaum Eigenständigkeit und Wahlmöglichkeiten gab. Kontrollzwang stand auf der Tagesordnung. Selbst diejenigen, die es schafften, die Kommune zu verlassen, wurden sie im Inneren nicht mehr los. Wie die nunmehr erwachsenen, ehemaligen Kommunardenkinder: Attila Mühl (Otto Mühls Sohn), Nico Aimar, Pati Dubois, Nina Schlothauer und Andy Simanowitz.

Wie auch Florence Burnier-Bauer. Sie gehörte zu der Elterngeneration, kam selbst als junge Mutter zum Friedrichshof. In ihrem ungeschönten, aus erschütternden Erinnerungen bestehenden Lebensbericht, erzählt die Künstlerin dem Filmemacher Paul Poet, wie ihr schicksalhafter Weg sie zur Kommune führte. Frei von Selbstmitleid schildert sie in gut zwei Stunden die grauenhaften Erlebnisse ihrer Kindheit, ihrer Jugend; vom Missbrauch im Elternhaus, über das Leben auf der Straße, begleitet von Drogenkonsum und Kriminalität, bis zur Kommune mit der strengen Gruppenordnung, den Zwängen, den erneuten Misshandlungen und Demütigungen.
In MY TALK WITH FLORENCE geht der Dokumentarfilmer und Journalist, Autor und Medienwissenschaftler Poet auf die Geschehnisse seiner Protagonistin und Gesprächspartnerin ein, lässt sie zu Wort kommen und in einer fast ausschließlichen, von Kameramann Johannes Holzhausen gedrehten Großaufnahme, gewinnt der Film dabei an Brisanz, an Eindringlichkeit. In uns wächst die Wut, wie sie auch in dem Filmemacher gewachsen sein muss, wie sie vor allem Florence ein Leben lang begleitet haben muss; und es wächst das Unverständnis in uns für den Grund solcher tiefe Narben hinterlassenden Erfahrungen. Der Versuch, nicht wertend zu sein, gelingt dem Fragenden. Sein Dokumentarfilm besteht aus ungeschnittenem Material, das er völlig schnörkellos präsentiert. Nur durch kurze Zwischensequenzen, die Fotos und andere Originalaufnahmen zeigen, werden die Schilderungen der mit einer Puppe im Arm sitzenden Florence unterbrochen.
Das Gespräch mit ihr führte Paul Poet bereits im Jahr 2008, Teile daraus stellte der ebenfalls als Performer tätige Filmemacher in einem anderen Zusammenhang aus. Im Kino wirkt das, was uns Florence erzählt, was uns der Film mit schonungsloser Direktheit aber auch mit sensiblem Blick wiedergibt, noch um einiges Drastischer. Wir haben keine schützende Ablenkung. Da sitzen wir in unseren Kinostühlen und nehmen Anteil an jenen Dingen, die Florence entschieden geprägt haben, die ihr den Boden unter den Füßen zogen, die ihre Rebellion angestachelt haben, die sie letztlich zu einer Frau werden ließen, die sich heute mit bemerkenswert distanzierter Reflexionsfähigkeit und befreiendem Humor damit auseinandersetzen und die sich vor allem behaupten kann.

Nur einzig die eine, nicht heilen wollende Wunde klafft am Ende doch noch auf: Florence musste miterleben, wie ihren Kindern auf ähnliche Weise Leid zugefügt wurde. Stellvertretend für andere Kommunen-Eltern durchlebt Florence in dem Film erneut die Hölle. Die Versöhnung mit sich selbst kann nur außerhalb der Leinwand erfolgen.


DIE KINDER VOM FRIEDRICHSHOF. Die Kommune Otto Mühl. Dokumentarfilm, Deutschland 2009, 81 Min. Buch und Regie: Juliane Großheim, Produktion: unafilm, arte. Erstausstrahlung: 18. Juli 2010 bei arte.

MY TALK WITH FLORENCE - EIN LEBEN IN DER KOMMUNE DES OTTO MÜHL. Dokumentarfilm, Österreich 2015, 129 Min. Buch und Regie: Paul Poet, Verleih: Drop-Out Cinema eG. Kinostart: 14. Januar 2016.

Beide Filme werden im Wiener Metro Kino im Februar 2016 zu sehen sein.


ICH UND KAMINSKI
"Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche bleibt für die Augen unsichtbar" Antoine de Saint-Exupéry

Wie fange ich an? Wie beschreibe ich ein lebendiges Gemälde? Ein Werk, das die Luft eines Künstlers atmet, seine Aura widerspiegelt und das mit solcher Nonchalance, mit einer unbeschwerten Leichtigkeit, mit viel Humor und herausragenden, brillianten Darstellern, das einem der Atem stockt vor Lachen, vor Staunen und Bewunderung. Film ist wie Kunst ist wie Essen ist wie Liebe. Du weißt nicht, was dich erwartet, ob es dir zusagt; noch kannst du es nicht wissen, bevor du es erlebt hast. Es ist ein Schnappschuss, ein Augenblick, eine Berührung, es geht um die Magie des Moments. Die es gibt oder nicht gibt. Diese Magie kann man nicht erzwingen. Und der unbändige Wunsch danach, kann einen erblinden lassen. Die Hoffnung ist es, die Zuversicht, die zählt.
Zuversichtig ist Sebastian Zöllner, ein bissig-charmanter, bisweilen arrogant-ekliger Schelm mit Hang zur Selbstüberschätzung, ganz bestimmt. Er ist Kunstjournalist und kurz davor, seinen großen Coup zu landen. Nämlich die große Lebenslüge, die den Maler Manuel Kaminski einst berühmt machte, aufzudecken. Sein Enthüllungsbuch soll ihn ganz groß rausbringen. Die Arbeiten zur Biographie über den Schüler von Matisse und Freund von Picasso, der einst als "blinder Maler" gehandelt wurde, gestalten sich jedoch schwerer, als Zöllner sich gedacht hatte. Die Tochter des Künstlers hindert den skrupellosen und ehrgeizigen Karrierist daran, sich dem hochbetagten Herrn, der zurückgezogen in einem Chalet hoch oben in den Alpen  wohnt, zu nähern. Aber mit Einfallsreichtum, List und einer gehörigen Portion Dreistigkeit gelingt es dem Biografen in spe nicht nur in das Haus einzudringen, einige Geheimnisse zu lüften, sondern Kaminski sogar auf eine Reise in die Vergangenheit mitzunehmen - um seine totgeglaubte Jugendliebe wiederzutreffen.
Die Autofahrt, so glaubt Zöllner, wird ihm helfen, sich das Vertrauen von Kaminski zu erschleichen. Es kommt natürlich ganz anders, denn der Maler ist Zöllner haushoch überlegen. Die Komödie wird zum Road-Movie und zum Selbstfindungstrip. Am Ende sieht Zöllner nämlich ein, dass er sich vielleicht eine ganze Weile lang auf dem Holzweg befunden haben könnte. Hat er wirklich?


ICH UND KAMINSKI, basierend auf den gleichnamigen Roman von Daniel Kehlmann, ist keine "Satire auf den modernen Kunstbetrieb", wie ihn viele meiner Kollegen verstanden haben wollen. Wolfang Becker ergreift genau diesen Aspekt und kehrt die Satire um. Wir lachen nicht über die Kunstwelt, sondern mit ihr, nicht über Zöllner, dem äußerlich gescheiterten, unerfahrenen Kunstkritiker, sondern schmunzeln eben über seine Unbeholfenheit und dem Faux-Pas vieler Anfänger: seiner eitlen Großspurigkeit. Das ist Beckers große Leistung, dass er seine Figuren nie verrät, auch die alten Maler nicht, deren Lebenswerk er sogar mit einer genialen Montage, den pitoresken Übergängen vom Gemälde zum Film, würdigt.
Die Wahl auf Daniel Brühl als Sebastian Zöllner und dem dänischen Mimen Jesper Christensen als Manuel Kaminski zeigt, dass Becker das sichere Gespür für seine Protagonisten hat. Er hat die Essenz der Geschichte förmlich eingeatmet, sie derart bildgewaltig und doch immer mit einem Augenzwinkern szenisch verarbeitet, dass man gewiss Lust entwickelt, sich den Film mindestens einmal anzuschauen.
Wenn es überhaupt einen Kritikpunkt an diesem stilistisch einwandfreien, herrlich komischen Film gibt, dann kommt sie selbstverständlich aus der Kunstkritikerszene, die es mal wieder nicht schafft, über ihre eigenen Empfindlichkeiten und Unzulänglichkeiten hinwegzusehen.
Andererseits feiern andere wieder in völliger, alberner Selbstüberschätzung die vermeintlich "entlarvte Kunstwelt", ohne den Film richtig verstanden zu haben. "Menschliches, allzu Menschliches", würde Nietzsche sagen. Um es mit den Worten Zöllners auszudrücken: "Jeder sagt was anderes, alle widersprechen sich, nix passt zusammen." Schön, dass wenigstens eine(r) sieht, worum es wirklich geht. Das Wesentliche bleibt eben für die Augen unsichtbar...



MY STUFF - WAS BRAUCHST DU WIRKLICH?

Nackt bis auf die Knochen auf die winterliche Straße rennen, um sich aus dem Container eine der gelagerten Habseligkeiten zu holen? Das geht wohl nur in Helsinki.
Petri Luukkainen ist 26 Jahre jung und hat genug vom übermäßigen Konsum, dem Kaufrausch, dem er sich seit der Trennung seiner Freundin ausgesetzt hat. Er will in einem Selbstexperiment herausfinden, was wirklich nützlich ist. Überlebensnotwendig. Innerhalb eines Jahres, so hat er sich selbst zur Regel gestellt, darf er täglich einen Gegenstand aus dem Lager holen. Und er darf in dieser Zeit auch nichts Neues erwerben. Er möchte sich neu erfinden, als Asket der Neuzeit. Daraus entstanden ist seine Dokumentation MY STUFF, in der er uns einen Einblick gewährt in die tägliche Entscheidung, welche Dinge er braucht und welche er noch nicht aus der Container-Gefangenschaft befreit.
Mit trockenem, skandinavischem Humor offenbart Petri seine Schwächen und zeigt zugleich auch selbst unerkannte Stärken: dass er beispielsweise mit den typischen "7 Sachen" klarkommt, dass er erfinderisch sein kann, pfiffig und dass wenig besitzen und nach und nach für ein wenig mehr "Komfort" zu sorgen, den Lebensstandard auf diese Weise minimal zu erhöhen, schon immense Glücksgefühle hervorrufen kann. Dass man so selbst zum Glücksschmied wird, hätte er vor Jahren nie zu träumen gewagt. Ein Mantel, ein Paar Schuhe, eine Decke, eine Jeans, ein Hemd, Schal, Matratze... Was braucht man mehr?
Die Großmutter spickt Petris Suche nach dem Glück mit Weisheiten, Ratschlägen und einer guten Portion Realismus: "Ein Kühlschrank ist das wichtigste für eine Frau" - als Petri seiner neuen Liebe begegnet, wird dieses Alltagsgerät plötzlich zum Verhängnis.

MY STUFF ist ein ruhiger, unspektakulärer Film. Hätte ihn ein Hollywood-Regisseur gedreht, wäre Petri ein überaus reicher Hipster, der in einer Villa lebt und sich vor Luxus kaum retten kann, der moderne GLÜCKSRITTER eben. Aber in Finnland ticken die Uhren anders, da geht es weniger um die sensationelle Story, vom geläuterten Reichen, als von einem jungen Mann, der von "Null" anfangen möchte. Wie ein Neugeborenes liegt er auch in der ersten Nacht, zusammengekauert, nackt auf dem Boden.
Während seine Freunde glauben, dass Petri durchgedreht ist, bahnt er sich von "Ding" zu "Ding" seinen eigenen Weg in ein neues Verständnis von Lebensstandard. Seinen höchstpersönlichen Weg zur vollkommenen Zufriedenheit.
Mit einigen der wiedererlangten Objekte kommen jedoch auch wieder Probleme ins Spiel, die man ohne nicht hätte. Aber wäre das Leben sonst nicht zu langweilig, wenn alles nur funktionieren würde? Andererseits mahnt der Film uns gerade in der Vorweihnachtszeit genau darüber nachzudenken, ob nicht weniger nicht mehr, sondern einfach nur genug ist!



BIG EYES - Können diese Augen lügen?

Wenn ein großer Zeichner und Meister der Filmkunst die Geschichte einer großartigen Künstlerin ins Kino bringt, wenn zudem die Künstlerin ein Idol des eben erwähnten Filmemachers ist, deren Kunstwerke er seit über zwei Jahrzehnten sammelt, dann kann man von Glücksfall reden. Und das ist BIG EYES unbestritten. Es ist nicht Tim Burtons schillerndstes, spektakulärstes Werk, eher ein Film der leisen Töne, obgleich Christoph Waltz und Amy Adams als Walter Keane und Margaret Hawkins sich ein Pas de deux auf der Leinwand liefern, das hervorragend präsent und dramatisch gespielt wurde. Komisch, heiter, traurig und hoffnungsvoll ist die Geschichte um die wahre Urheberin der "Kinderbilder mit den großen, traurigen Augen". Und es ist eine Geschichte, die gerade Frauen anspricht, deren täglicher Kampf um Selbstbestimmung, um das Recht, sich zu verwirklichen, wirkungsvoll thematisiert wird. Ich vermeide es mit Absicht, hier das oft bemühte, große Wort "Emanzipation" ins Spiel zu bringen. Als "alter Hut" abgestempelt, wird es der Story auch nicht gerecht. Es geht um weitaus mehr. Darum, was es für eine alleinerziehende Frau in den späten Fünfzigern bedeutet, ihren Ehemann zu verlassen, weil er sie nicht "atmen ließ"; wie sie sich zunächst in Kalifornien, dann in Hawaii eine neue Existenz aufbaut. Der erste Vorstoß zur Selbständigkeit und Unabhängigkeit wird Margaret zum Verhängnis, als sie dem vermeintlichen Malerkollegen Walter begegnet. Charmant, gewitzt, und zweifelsohne clever - ein Typ, der sich und der Welt ohne Skrupel einen Bären aufbinden kann, der in der Lage ist, seine eigene Mutter zu verkaufen - wickelt Walter die gutmütige Margaret um den kleinen Finger. Sie soll ihre Werke verleugnen, ihre Originale in seine Hände geben. Denn nur so könne man sich als Familie eine sorglose Zukunft aufbauen. In Wahrheit schwebt dem geborenen Vermarktungsprofi ein Imperium vor: sein eigenkreiertes, inszeniertes Kunstimperium. Er genießt das Rampenlicht, den Ruhm, die Aufmerksamkeit, während seine in Eile und unter Druck geehlichte Partnerin im Hintergrund, still und leise, eben jene Bilder malt, die ihn noch berühmter machen sollen. Man muss Walter zugute halten, dass er sein Versprechen, ein Leben in finanzieller Sorglosigkeit zu erzielen, durchaus einhält. Doch was sind die Opfer, die Margaret dafür erbringen muss? Sich selbst zu verleugnen, ihre Tochter anzulügen, Freundschaften aufzugeben. Kann das der Preis dafür sein? Fast wird es für die im Verborgenen arbeitende Künstlerin zu spät, um ein Haar hätte sie alles verloren, was ihr lieb ist. Die Schlüsselszenen, als Margaret ein Selbstporträt malt, das die sich im Zwiespalt befindende, gewissenhafte Frau darstellt, und als sie von ihrer Rolle in der Gesellschaft spricht, in der sie erst als Tochter, dann Ehefrau und schließlich Mutter ihr Leben an sich vorbeiziehen sieht, diese Schlüsselszenen sind bezeichnend für BIG EYES. Sie lassen erkennen, worauf es im Leben ankommt: nämlich die Augen offen zu halten, sich selbst zu beobachten und zu prüfen. Wachse ich oder schrumpfe ich? Bin ich mir selbst noch treu? Lebe ich nach meinen Prinzipien? Worauf kommt es mir an, wenn ich von "Existenz" spreche?
Gegen Ende wird es für den aufgeklärten Zuschauer etwas zu "spirituell". Und konventionell. Man wartet regelrecht vergeblich auf den Burton'schen Geniestreich. Es ist der cineastische Funke, der nicht überspringen will. Und dennoch, auch wenn es für Tim Burton-Kenner und -Liebhaber ein für deren, unseren Geschmack zu sehr nach Hollywood-Konformität schreiender Film ist, kann man strahlend aus dem Kino herausgehen - und das nicht nur, weil uns Waltz mal wieder das Lachen gelehrt hat. Sondern warum? Uns wurden die Augen geöffnet...*

*Auch im Mainstream kann man Erleuchtung erfahren. Expressionismus braucht keine künstliche Erweiterung. Man kann sich nur selbst befreien - aus selbst- und fremdauferlegten Fesseln. Es lohnt sich, die Welt durch die Augen eines Kindes zu sehen. Das ist die Quintessenz, die sich als roter Faden durch sämtliche Tim-Burton-Welten zieht.

Fazit: Der Film ist inspirierend. Zumal die Wahrheit im Radio ans Tageslicht kommt.


BIRDMAN - Oder die unglaubliche Langeweile beim Betrachten eines Selbstgespräche führenden, ausrangierten Schauspielers, der nur in Unterhose für Furore sorgen kann. 

Ja, so könnte der Untertitel lauten. Tut er aber nicht. Es heißt "Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit", und die kann jeden treffen. Da schlittert der von der aktuellen Flaute gebeutelte, vom Ruhm vergangener Tage zehrende Schauspieler Riggan Thomson in ein Projekt, einem Broadway-Stück hinein, um sich und der Welt etwas zu beweisen. Ach? Wie? Noch ein Film, bei dem es darum geht, sich und der Welt etwas zu beweisen? Stimmt, so könnte man es betrachten. Aber Riggan ist nicht Mateus (IN MEINEM KOPF EIN UNIVERSUM). Riggan war einst ein Superheld und seine psychische Bindung an diese fiktive Figur wuchs von mal zu mal, je erfolgloser seine Karriere verlief, bis es ganz Überhand nimmt und ihn und sein Leben komplett in Schach hält. Das Bühnenstück, mit dem er seine Karriere wiederzubeleben sucht, basiert auf Raymond Carvers Kurzgeschichte What We Talk About When We Talk About Love - und ich finde es ziemlich schade, dass man diesem Stück nicht mehr Beachtung schenkt, in Alejandro González Iñárritus Film, der sich als Komödie bezeichnet. Ehrlich gesagt, ich halte mich für eine Ulknudel, die nicht unbedingt in den Keller muss, aber lachen konnte ich nicht. Selten. Nö, eigentlich gar nicht. Ich hatte Mühe meine Augen offen zu halten. Mir schleierhaft, warum der Film so viel Aufmerksamkeit erregt hat: Premiere bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig 2014, Oscar als bester Film 2015 in der Kategorie Komödie oder Musical, bester Hauptdarsteller und bestes Filmdrehbuch, zahlreiche Nominierungen... Michael Keaton spielt - sich ? - in einer öden Nabelschau. Edward Norton, der war nicht schlecht besetzt, seine Rolle bot aber auch kaum Entwicklungsmöglichkeiten, Emma Stone und Naomi Watts - ja die beiden haben noch etwas aus der trostlosen Situation gemacht, zumindest versucht zu retten, was zu retten ging.

Doch zurück zum Bühnenstück, in dem meines Erachtens das ganze Potenzial steckte, das Iñárritu leider brach liegen ließ, zugunsten einer traurigen Satire... In Carvers Kurzgeschichtensammlung porträtiert der Autor Menschen, die - so wird es gerne gesagt - "am Rande der Gesellschaft leben", Menschen ohne Bildung, ohne Zukunftsperspektive, Menschen, die nur wenig Vorstellungskraft besitzen, um sich neu zu definieren, die aber auch nicht aufgeben. Carver feiert diese Menschen.
Hätte man diesen Geschichten mehr Raum gegeben, sie mit den realen Ereignissen auf der Bühne verknüpft, hätte man das Potenzial ausgeschöpft. Stattdessen konzentiert sich BIRDMAN auf die bekannten Verhaltensmuster: Fegefeuer der Eitelkeiten, Selbstverliebtheit und -beweihräucherung treffen auf Läuterung, auf die Rückbesinnung zum Wahren, Schönen, Guten. Man will echt sein, Mann! Jeder, der sich an Hollywood gerieben hat, will das, irgendwann. Das schizophrene Verhalten, die innere Zerrissenheit, das wird natürlich alles satirisch und klug verstrickt, weil wir sollen ja alle erkennen, wo die Schwächen des Showbiz liegen und herzlich darüber lachen, oder mitleiden. Ausgerechnet Ex-Batman Michael Keaton, der das Opfer des Superheldenkinos spielt, soll uns dazu animieren. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig... Was, wenn aber die Rechnung, die der mexikanische Regisseur macht, nicht aufgehen will? 
Wenn Emma Stone als Sam, Thomsons Tochter, seine falsche, nichtssagende Welt als solche entlarvt, wenn sie eine dieser Carver'schen Figuren ist, die in der heutigen Welt verankert ist, mit Smartphone, mit Drogenentzug, mit innerer Abkehr von der geheuchelten Anteilnahme anderer; was wenn Sam die wahre Hauptfigur in dem ganzen Stück ist? Ihre Rebellion, das Spiel mit der Wahrheit, das nur sie gewinnen kann, weil sie nichts zu verlieren hat, ist ihre Aura; der Raum, den sie füllt, wenn sie auf New York hinab und aus dem Fenster hinaufschaut. What We Talk About When We Talk About Love, das Geheimnis bewahrt Sam in sich; und so könnte auch der Film lauten, der sich diesem Geheimnis annimmt. In dem Sam nicht nur die heimliche Hauptrolle spielt. In dem die Helden Randfiguren sind und die Randfiguren die wahren Helden. Das wäre ein schöner Film geworden.



NEULAND
"Glauben Sie an sich, ergreifen Sie die Chance!"

Sie heißen Ehsanullah, Nazljie, Ismail, Hamidullah, Hashimi, Hossein, Carlos und Tugce und kommen aus den unterschiedlichsten Regionen der Erde, per Flugzeug, Bus oder Schlauchboot nach Europa, in die Schweiz, um den Konflikten - seien es Krieg oder Verfolgung, Armut oder Hunger - zu entfliehen. Ihre Hoffnung ist es, hier Fuß zu fassen, eine Perspektive zu erhalten, die ihnen in ihren Herkunftsländern verwehrt bleibt. Und ihre Hoffnung heißt Christian Zingg. Er ist Lehrer in einer Integrationsschule in Basel und hilft den Neuankömmlingen auf ihrem Weg, während ihrer zweijährigen Schulzeit, nicht nur die Sprache zu erlernen, sondern sich als Menschen in einer ihnen fremden Umgebung eine Zukunft aufzubauen. Dabei weist Christian Zingg nicht nur fachliche Kompetenz auf, er ist vor allen Dingen mit Herz und Seele bei der Sache und holt die Jugendlichen dort ab, wo sie zunächst sprachlos, innere und äußere Verletzungen von sich tragend, förmlich gestrandet sind und ohne Unterstützung kaum Chancen hätten. Die einen nehmen die Hilfe dankend an, andere versuchen es auf ihre Weise. Und doch sind am Ende alle froh darum und fast schon erstaunt, wie schnell sie die Sprache erlernt und wie viel Verständnis und Mitgefühl ihnen ihr Lehrer entgegengebracht hat.

Anna Thommen hat die Schülergruppe und ihren Schweizer Lehrer über den Zeitraum ihrer sprachlichen Ausbildung mit der Kamera begleitet und zeigt uns, was leider viele, wenn es um "die Migranten" geht, gerne vergessen: dass sie Jugendliche sind, wie alle anderen, und doch ihre eigene Geschichte mit sich tragen; die zum Teil Schlimmes durchgemacht haben und weit gereist sind, um einen Neuanfang zu wagen; die Heimat, Familie und Freunde hinter sich lassen mussten und trotz schneller Auffassungsgabe und Fleiß, nur wenige Möglichkeiten auf einen beruflichen Einstieg geboten bekommen.
Christian Zingg macht seiner Truppe zwar keine falschen Hoffnungen, doch er wird andererseits auch nicht müde, den Glauben seiner Schülerinnen und Schüler zu stärken, ihnen trotz schlechter Voraussetzungen und Ausgangslage klar zu machen, dass wo ein Wille ist, sich auch ein Weg findet.
Der Dokumentarfilm zeigt somit auf einsichtige, berührende Art, wie Integration gelingen kann, wenn man Türen vorbehaltlos öffnet, wenn andere bereit sind, durch diese Türen zu gehen und man sich auf Augenhöhe begegnet. Anna Thommens mehrfach ausgezeichnete Doku NEULAND gewährt nicht nur Einblicke in die Integrationsarbeit innerhalb der Schule, sondern zeigt, wie die Arbeit in diesem Mikrokosmos auch außerhalb der Lehranstalt Früchte trägt. Ihr beobachtender, einfühlsamer Blick begleitet die jungen Menschen, bringt sie uns näher und entkräftet Vorurteile, wo welche waren und bestärkt jene Grundhaltung zu mehr Offenheit und Engagement. NEULAND zeigt somit, dass eine neue Umgebung nicht zwingend Neuland bleiben muss, wenn sich beide Seiten aufeinander zu bewegen.


DIE WOLKEN VON SILS MARIA

Olivier Assayas' Göttinnenruf

"Grausamkeit ist cool und Schmerz ist Scheiße" - das ist der Schlüsselsatz, den Olivier Assayas Valentine, Maria Enders Assistentin, in den Mund legt. Damit meint sie bzw. er, dass wir es gewohnt sind, die menschlichen Grausamkeiten als selbstverständlich anzunehmen und diejenigen, die sie an den Tag legen, zu glorifizieren, während wir das Leid, das andere empfinden als uncool betrachten. Wer mag schon jemanden gerne weinen, verzweifeln und an dem Schmerz zerbrechen sehen? Wie viel Sensibilität, Einfühlungsvermögen und Mitgefühl ist in einer Zeit, die von imagestärkenden oder -schwächenden Google-Bildern im Netz und von Statusmeldungen auf der Facebook-Timeline bestimmt ist, noch "drin"? Nein, die Frage ist zu platt formuliert. Philosophisch betrachtet und im Sinne der griechischen Mythologie haben wir es hier mit einer Tragödie zu tun, in deren Verlauf eine Wandlung stattfindet; es ist der biblische Kampf von David gegen Goliath. Wobei Assayas uns gekonnt auf die falsche Fährte lockt, wenn er seine Hauptfigur Maria Enders zunächst als schillernde Persönlichkeit darstellt, die Superfrau, die sich auf dem Höhepunkt ihrer Karriere befindet. Der gefeierte Leinwandstar ist kein Goliath, auch Valentine ist es nicht - sie zerbricht schier an dem Spagat, die Fiktion von der Realität fernzuhalten, Distanz aufzubauen und doch die für die Proben notwendige Nähe zu ihrer Rolle und der ihrer Arbeitgeberin herzustellen. Und es ist auch nicht Jo-Ann Ellis, das junge Starlet aus Hollywood, das mehr mit Skandalen von sich reden lässt, als durch brilliante Auftritte. Der wirkliche Kampf findet innerlich statt, in jedem von uns. Wie viel "Goliath" lassen wir im Alltag zu? Und wie viel "David" muten sich Menschen, vor allem jene, die in der Öffentlichkeit stehen, zu? Die Namen der Figuren, die Maria und Jo-Ann verkörpern sollen, kommen nicht von ungefähr: Sigrid, die Siegreiche, die Weisheit und Schönheit in sich trägt, aber auch voller Stolz und vielleicht etwas Hochmut ist; über sie wird in den nordischen Sagen berichtet, dass sie als Tochter des mächtigen Wikingers Skoglar-Torste Erik den Siegesfrohen heiratet, um sich später von ihm scheiden zu lassen. Auch er taucht im Film auf, allerdings als Marias Schauspielkollege Henryk Wald. Von dem lässt sich Maria Enders zwar nicht scheiden, obgleich sie sich zu Beginn des Films in Scheidung befindet, aber er verkörpert den fallengelassenen "Siegesfrohen", den die junge Maria zunächst bewundert, ihm verfällt, der sie dann aber abserviert. Sie rächt sich später als erfolgreiche Schauspielerin, indem sie seinen Avancen nicht nachgibt. Es wird im Verlauf des Films noch eine letzte Schlacht mit Henryk ausgetragen... 

Bei einer Preisverleihung treffen die beiden aufeinander. Hier erhält Maria auch das Angebot, in der Wiederaufführung eines Theaterstücks zu spielen, mit dem sie vor 20 Jahren ihren Durchbruch feierte. Damals hatte sie die Rolle der Sigrid übernommen - eine verführerische junge Frau, die auf ihre Vorgesetzte Helena eine ganz besondere Faszination ausübt und sie schließlich in den Selbstmord treibt. Nun soll Maria, so will es der Regisseur, die ältere Helena spielen. Helena - in der griechischen Mythologie die Schöne, die Prinzessin von Troja und Königin von Sparta, Tochter des Zeus und der Leda und Ursache für den trojanischen Krieg - ist eine gebrochene Frau, eine Leidende, eben die "Uncoole". So sieht es Maria, und hegt Zweifel, ob sie sich in dieser Rolle wohlfühlen wird. Valentine ist es, die der Figur Leben einhaucht, in dem sie Maria zu erkennen gibt, wie viel Kraft in Helena steckt, weil sie eben Schmerz zulässt, weil sie empfindet und ihre Gefühle nicht in die Schranken weist. 

Die Proben werden nicht zufällig im Engadin bei Sils Maria durchgeführt: Hier ereignet sich von Zeit zu Zeit ein Wetterphänomen: Die Malojaschlange. Aus Wolken bildet sich ein langgezogener Wolkenband, der sich um die Berge schlängelt und teilt, um als vielköpfiges Gebilde die Landschaft in Weiß zu fluten - der Hydra gleich. In der griechischen Mythologie wird Hydra als schlangenähnliches Ungeheuer beschrieben, das als Gleichnis für Situationen steht, wo jeder Versuch einer Eindämmung oder Unterdrückung nur zu Ausweitung einer Eskalation führt. Also steht die Malojaschlange im Grunde für Emotionen, die man nicht unterdrücken kann, die uns nur dann nicht überwältigen, wenn wir nicht ständig versuchen, sie kleinzuhalten. Die neue Helena wird nicht gegen ihre Gefühle angehen, sie wird sie annehmen, und die dadurch gewonnene Souveränität wird letzten Endes ihre Rettung sein. 

Zuvor aber bringt Regisseur Olivier Assayas in seinem künstlerischen Mix aus Film und Theaterstück genialerweise eine weitere Figur ins Spiel: ich würde ihn Herakles nennen, im Film heißt er Piers Roaldson. Der Heil- und Orakelgott ist als einziger in der Lage, der Hydra Herr zu werden; hier ist er ein junger Regisseur, der mit dem technischen Fortschritt nicht unbedingt konform geht, der seine Zeit kritisch beäugt und der Maria womöglich den allesentscheidenden Anstoß gibt, indem er ihr bewusst werden lässt, dass es eine von Raum und Zeit befreite Dimension im Leben gibt, die es  zu erreichen lohnt. 



DIE LIEBE UND VIKTOR
Don Quischotte - ich meine Quijote - lebt!

Ich weiß gar nicht mehr, wie ich auf diesen genialen Underground-Movie kam, der mir ein breites Grinsen, Lachkrämpfe und Pipi in den Augen verpasste. Es war wohl einer dieser Internet-Zufallsgriffe. Übrigens: eine kluge Marketingstrategie ist das, sich rund um die Uhr im Netz zu tummeln: Das Bild der beiden Radfahrer, namentlich Otto und Viktor genannt, inklusive Hinweisschild: "La Mancha 2.476" ging mir nächtelang nicht mehr aus dem Kopf! Sobald ich den Rechner anschmiss und mich ins Netz einwählte, erschien es vor meinen vom Schlafmangel getrübten Augen. Zu dem Zeitpunkt war der Film bereits in Berlin und rund um die Hauptstadt in den Kinos angelaufen. Aber Patrick Banush, der talentierte Macher hinter der Komödie, geriet wohl in Bedrängnis, denn es wollten auch andere in den Genuss kommen, wenigstens einmal im Leben über die verlorene Liebe lachen zu dürfen. Daher gab er sich nicht mit ein paar Vorführungen zufrieden und gondelte mit seiner Indie-Komödie von Stadt zu Städtchen; sogar bis nach Kanada führte ihn Viktors Kampf gegen die globale Illusion; und auch auf der Homepage eines renommierten Magazins fand der Film seinen Platz - für den faulen Couchpotato, dem der Weg zum Kino zu weit ist...
Nun kommt er also zu uns ins Kino, praktisch vor die Haustür - man könnte eigentlich im Morgenmantel und in Pantoffeln hin. Und er wird die Herzen der Schwaben im Sturm erobern. Denn Viktor, der "große, dünne, leicht depressive" Aufklärer, ist ein sympathischer Chaot und seit seinem kleinen, unfreiwillgen, medialen Zusammentreffen mit seiner Verflossenen der Ansicht, Liebe sei nur eine Erfindung. Eigentlich handele es sich um einen Scherz, meint der Mittzwanziger, der bei seiner Mutter wohnt; wissenschaftlich gesehen um einen Chemikaliencocktail, der uns daran hindert, klar zu denken. Und schon damit hat der Knilch bei mir einen Stein im Brett - gehabt. Bis ich selbst diesem schönen "Wahn" verfiel, aber das ist eine andere Geschichte... Jedenfalls findet Viktor kaum Gleichgesinnte - selbst sein Jugendfreund Otto will den wirren Theorien seines Kumpels zunächst nicht glauben, als dieser sich uneingeladen in seine Wohnung einquartiert. Je anstrengender jedoch Ottos humorlose Freundin wird, die von der Idee einer Dreier-WG ziemlich wenig hält, desto einleuchtender wird Viktors Lehre für den gebeutelten Träumer. Gemeinsam machen sie sich auf den Weg, die Welt zu retten. Wie "Mario Schanza" und "Don Quischotte" kämpfen sie gegen die Gefühlsduselei-Mühlen, versuchen vermeintlich verzweifelte Menschen in ihrer ausweglosen Situation daran zu hindern, etwas Unüberlegtes zu tun. Dass sie auf ihren Rädern im Stadtpark eher das Gegenteil bewirken, sich in der Videothek mit der Videothekarin anlegen und dem Pyjamaträger, der Viktor nächtlich erscheint und von sich behauptet, der echte Don Quijote aus Treuenbrietzen zu sein, ein Dorn im Auge sind, ist den beiden schnuppe. Sie haben eine Mission: nämlich der Liebe den Krieg zu erklären. Ob sie sich das gefallen lässt?

Patrick Banushs Debütfilm ist ein Independent-Film, wie man sich mehr davon wünscht: ohne jegliche Fördergelder gedreht, mit einem Budget von nur 10.000 Euro, schlug sein Anti-Liebesfilm ein wie eine Granate! Als bezaubernd komische, lakonische "Very-Low-Budget"-Produktion bezeichnete so auch die Presse seinen ersten, unglaublich gut gelungenen Wurf, den niemand verpassen sollte. Schon jetzt hat DIE LIEBE UND VIKTOR Kultstatuts erreicht, und das nicht zuletzt aufgrund eines absolut stimmigen Drehbuchs, eines überaus engagierten, herausragenden und mit Rolf Zacher und Samuel Finzi in den Nebenrollen auch noch hochkarätig besetzten Schauspielensembles. Die Lorbeeren tragen jedoch zurecht Hendrik von Bültzingslöwen und Isaak Dentler spazieren, wenn sie in Berlin und Frankfurt unterwegs sind. Natürlich in aller Bescheidenheit, wie es sich für den Ritter der traurigen Gestalt und seinem Gehilfen gebührt!

Zu sehen ist DIE LIEBE UND VIKTOR beispielsweise am 6. März im Subiaco Kino in Alpirsbach, am 7. März in Frankfurt/Main im Orfeo's Erben inklusive Lesung, am 8. März in Langen in der Lichtburg (auch hier mit 'ner Lesung), am 21. März im Lichtblick-Kino in Berlin - inklusive Glas Wein, Manchego-Käse und Party. Weitere Infos findet Ihr auf der offiziellen Seite unter www.liebeundviktor.de oder auf Facebook https://www.facebook.com/DieLiebeundViktor?fref=ts



WHO AM I - KEIN SYSTEM IST SICHER

Wer bin ich? Bin ich überhaupt jemand, wenn mich niemand wahrnimmt? Da die Außenwelt offensichtlich keine Notiz von Benjamin zu nehmen scheint, taucht der hochbegabte Hacker in die virtuelle Welt ein. Tagsüber holt er den verpassten Schlaf in der Bahn, auf dem Weg zur Arbeit als Pizzabote, nach. Doch sein sehnlichster Wunsch ist es, ein Held zu sein, endlich im Mittelpunkt zu stehen - zumindest kein Niemand mehr zu sein. Da kommt ihm der charismatische Max gerade recht, der eigentlich nichts mit ihm gemeinsam hat, außer eben das Hacken. Zusammen mit dessen Freunden, dem extrovertierten Stephan und dem etwas paranoiden Paul gründen sie nach anfänglichen Aktionen die subversive Hackergruppe CLAY - Clowns Laughing At You. CLAY provoziert mit Spaßaktionen und trifft den Nerv einer gesamten Generation. Endlich ist Benjamin dort angekommen, wo er sein wollte: er ist Teil einer Gruppe, die Aufmerksamkeit erregt, auch die seiner Jugendliebe Marie. Aber leider wird auch eine terroristische Organisation auf der einen und der BKA sowie eine Hacker-Einheit von Europol - geleitet von der Agentin Hanne Lindberg - auf der anderen Seite auf CLAY aufmerksam. Plötzlich steht ihr Leben in Gefahr. Nur eines kann sie aus dieser verfangenen Situation retten: Sie müssen den Oberguru-Hacker MRX finden ...
Freundschaft, Sinnsuche, Aktionismus, Untergrund, virtuelle Welt, Kriminalität - das sind nur ein paar der vielseitigen Facetten des überzeugenden Hacker-Thrillers made in Berlin, der schon in der ersten Woche auf Platz 1 gelandet ist.
Da hat einer nicht nur seine Hausaufgaben gemacht, nein, Filmemacher Baran Bo Odar ist mit WHO AM I - KEIN SYSTEM IST SICHER sogar in den Regisseur/innenhimmel aufgestiegen; in jenen, der Genies die Pforte öffnet. Ein Genie, das sich nach seinen Filmerlebnissen - vermutlich: HACKERS (1995), ANONYMOUS (2011), SPIDERMAN (2002) und ganz sicher FIGHT CLUB (1999) - gedacht haben muss: "Daraus lässt sich was machen!" Nicht missverstehen, es handelt sich nicht um ein billiges Plagiat! Es ist vielmehr eine Reminiszenz an jene Underground-Filme, welche eine Szene beleuchten, in die ein Großteil der Gesellschaft nur wenig oder gar keinen Einblick hat. Atemberaubendes Tempo, brilliante Schauspielkunst - allen voran von Shooting-Star Tom Schilling, der schon gar kein Neuling mehr ist, sondern ähnlich wie seine Filmfigur Benjamin, dort angekommen ist, wo er schon immer mal sein wollte - überraschende Wendungen, kreative Inszenierung und eine intensive Bebilderung der digitalen Welt sind die Markenzeichen von Odars neuem, großen, überragenden Wurf. Clowns haben es dem aus der Schweiz stammenden Regisseur angetan: Schon in DAS LETZTE SCHWEIGEN taucht die Figur in einer Szene als Motiv in einem Mordfall auf. Clowns sind Benjamin und seine Hackerfreunde nun wahrlich nicht, auch wenn die Dialoge und viele Szenen urkomisch sind. Die vier Netz-Musketiere, die sich von den anderen durch ihre außergewöhnlichen Ideen und ihrer Realsierung in der analogen Welt unterscheiden, sind vielmehr Aktionskünstler. Den einen, das Alpha-Tier Max, treibt der Umstand um, sich seinen Platz unter den Hackern zu erobern. Er möchte sich von MRX Respekt und Anerkennung verschaffen. Stephans Motor ist der Spaß. Und Paul sieht die Relevanz in den Handlungen und ist die Stimme der Vernunft. Zusammen sind sie die "Social Engineerings", die Hacker in der realen Welt. Und das macht auch einen Großteil des Reizes an WHO AM I aus. Von der ersten Aktion an macht es Riesenspaß dabei zuzusehen, wie die Umwelt auf ihre Streiche reagiert. Max und Moritz reloaded. Intelligent und mit einem feinen Gespür für Timing nimmt der Film dann die Kurve und führt uns in eine ganz andere Welt: die der echt bösen Jungen, der Kriminellen und ihrer Verfolger. Mittendrin steckt Benjamin und versucht sich über die Rebellion via Worldwideweb, seinen Weg in Maries Herz zu bahnen. Sensibler, klüger und actionreicher wurde selten eine Liebeserklärung in Szene gesetzt.



Von Traumtänzern und Akrobaten

CAN A SONG SAVE YOUR LIFE? & PETIT BUS ROUGE

Zwei Filme, die im Kontrast zueinander stehen: Während es bei dem einen darum geht, das eigene Leben mittels Musik zu "retten" - d.h. ihm eine neue Wendung zu geben - könnte man den anderen als Antipoden dazu betrachten: Hier geht es darum, die Grenzen menschlicher Existenz mittels Extremsport auszureizen. In gewisser Weise stellt sich auf die Frage: CAN A SONG SAVE YOUR LIFE? die Gegenfrage: Können die Mitglieder von "Flying Frenchies Circus" trotz ihrer Verrücktheiten überleben?

In dem Dokumentarfilm und Wettbewerbsbeitrag zum Festival der Bergfilme in Ushuaia, Argentinien, PETIT BUS ROUGE von Sébastien Montaz-Rosset, ist dem Regisseur, nach dem beeindruckenden Debüt I BELIEVE I CAN FLY, ein schwindelerregendes, herausragendes Porträt einer wilden Gruppe von Akrobaten, Bergsteigern, Clowns, Seiltänzern und Musikern gelungen. Er versammelt sie alle im "kleinen roten Bus" und ab geht die Fahrt von Spanien nach Schottland, über Brüssel nach Brévent, in die Lüfte, auf dem Land und über dem Meer, kletternd, fliegend, schwebend und fahrend, auf einem einzigartigen Trip mit atemberaubenden Landschaftsaufnahmen. In luftigen Höhen, von Berggipfel zu Berggipfel auf einem Seil balancierend, Paragliding-Katapult inklusive, gelingt es den Flying Frenchies mit ihren waghalsigen Kunststücken immer wieder aufs Neue, Ängste zu überwinden aber auch die Grenzen des Möglichen auszuloten. Montaz-Rosset lässt uns daran teilhaben, er nimmt uns mit auf diese verrückte Reise; als großartiger Dokumentar- und Naturfilmer, aber auch Alpinist, Bergsteiger, Snowboarder und Bergführer ist er nicht nur in der Lage, die Magie der Berge und der Natur einzufangen, sondern uns auch die Freude der Akrobaten und Extremsportler an ihren Stunts und Überflügen zu übermitteln, ihren Bezug zu den Bergen verständlich zu machen, der oft sehr unkonventionell ist. Mit einem Wort: Dieser Film und seine Protagonisten sind einfach nur "krass"! Gezeigt wurde PETIT BUS ROUGE bereits im Juni im Hochschulkino Hildesheim, in Österreich 2013 und 2014 bei der European Outdoor Film Tour, die gerade auch durch Deutschland tourt - u.a. in den Open Air Kinos in Kirchheim-Teck beim Sommernachtskino, in Münster und in Dresden. Das ist auch die letzte Chance die E.O.F.T. 13/14 noch einmal auf der großen Leiwand und in wunderschöner Kulisse zu erleben!

Ja, und während die einen ihr Leben auf dem Seil tanzend quasi aufs Spiel setzen, setzt ein Musikproduzent alles daran, diesen einen Song groß herauszubringen - mal ehrlich: hat der Knabe überhaupt was zu verlieren? Nein, denn der New Yorker Profi Dan Mulligan ist gerade von seinem Geschäftspartner gefeuert worden. Und auch sonst scheint ihm das Glück nicht wohlgesonnen. Doch das ändert sich schlagartig, als er eines Abends die junge Songwriterin und Sängerin Gretta, deren Freund und Musiker Dave Kohl sie wiederum gerade mit einer Musikproduzentin betrogen hat, ihre Herzschmerzhymnen performen hört. Dan erkennt sofort das Potential der an Liebeskummer leidenden jungen Frau und gemeinsam setzen sie alles daran, Grettas Song groß herauszubringen. Dazwischen werden Familienzwist und Beziehungsdramen gelöst - zumindest zeigt sich hier und da Reue, ob es zum großen Happy End kommt, das erfahrt ihr im Kino. Allerdings, ob der Film unbedingt einen Kinobesuch wert ist? Nichts Neues bringt Regisseur und Drehbuchautor John Carney mit seinem neuen Wurf auf die Leinwand. Dass hier ein durchaus überzeugender Mark Ruffalo als gescheiterter Musikproduzent und Familienvater auftritt und Adam Levine von Maroon 5 als gefallener Engel das Herz seiner Verflossenen mittels anrührender Musik zurückgewinnen möchte, das und eine bemühte Keira Knightley mögen nicht von der Tatsache hinwegtäuschen, dass CAN A SONG SAVE YOUR LIFE? ein dünnes Drehbuch zur Vorlage hat und eine konventionelle Geschichte erzählt. Ja, das Künstlerleben ist kein Honigschlecken - das mag man dem Film noch zugute halten, uns diese Einsicht vor Augen zu führen (wenn man sie nicht schon längst besaß). Jedenfalls ging es mir ähnlich wie Scarlett Johansson, die sich frühzeitig aus dem Projekt verabschiedete - auch ich kehrte CAN A SONG SAVE YOUR LIFE? den Rücken und dachte mir: "Nö, kann er nicht, aber netter Versuch!"

Die Revision: "Doch, er kann!"
Manchmal, da kommt man nach wiederholtem Filmsichten aus dem Kino mit geläuterten Gedanken. Manchmal aber, da wirken sogenannte "Stimmungsfilme" - Filme, die man je nach Prädisposition, nach Laune und Stimmung gut oder schlecht findet - über die nach wie vor bestehenden Mängel hinweg. In anderen Worten, man erkennt nicht seine eigene falsche Lesart an, wie es mitunter der Fall ist, sondern lässt sich von dem "Flow" des Films mitreissen, schwebt sozusagen über die Schwächen, seien sie darstellerischer oder konzeptioneller Natur, hinweg. CAN A SONG SAVE YOUR LIFE? ist einer dieser Filme, die über das irritierende Grinsen der Schauspielerin, ihres irren Blicks an Stellen des Films, die keinerlei Raum dafür geben, über die x-te Wiederholung der gleichen Szene hinwegsehen lassen, sofern man sich darauf einlässt. Dann passiert gar etwas Merkwürdiges: Plötzlich gewinnen die Charaktere, so Stereotyp sie auch daherkommen, an Substanz, sie sind keine "Flachmännchen" mehr, sondern richtige, eigenständige Figuren. Dans Tochter ist so ein herausragendes Beispiel: auf den ersten Blick trägt sie nicht viel zur Geschichte bei; sie ist eine Nebenfigur von solchen, die das Gesamtbild ausschmücken. Nach diesem zweiten Kinobesuch stellt sich die Sache ganz anders dar: Violet rückt ins Rampenlicht, nicht nur durch ihr bemerkenswert gutes Gitarrensolo, sondern weil sie in den Dialogen stets eine subtile Weisheit herausleuchten lässt, die dem Film eine weitere Dimension verleiht. Violet ist die (oft fehlende) Vernunft des Vaters, die (vereiste) Emotion der Mutter, auch in Szenen, in denen sie nicht spricht, allein in ihrem Zimmer auf ihrem Bett liegt, an ihrer Gitarre zupft, bringt sie das Gefühl, sich mittels Musik vor den vorherrschenden Spannungen in ihrer Umwelt retten zu können, in feinsinniger Art und Weise auf den Punkt. Violet hat mehr mit Gretta gemein, als es zunächst scheinen mag. Sie sind Seelenverwandte, Glaubensschwestern. Während Gretta einen kleinen Schritt weiter in ihrer musikalischen Entwicklung ist, sich aber noch mitten in der Persönlichkeitsentfaltung befindet, scheint Violet das Geheimnis eines ausgeglichenen Daseins zu hüten. Das Geheimnis liegt zwischen den Noten, den Zeilen und den Szenen; es lässt sich schwer in Worte fassen, lässt sich oft erahnen, aber vor allem eins: erspüren. Ich würde es Euch gerne verraten, aber ich denke (anders als Regisseur John Carney), ihr kommt schon selbst darauf, wenn ihr es nicht schon längst wisst. Einen kleinen Tipp will Euch dennoch mit auf den Weg geben: Mit "l" fängt es an - die drei großen "l's" des Lebens...



The Extraordinary Tale Of The Times Table
- oder die fabelhaft-makabre Welt der Mutterschaft

Wie fange ich bloß an? Am besten beginne ich damit, Euch den Filminhalt zu erzählen. Oder? Was meint Ihr, Freunde? Hm, nein, besser ist es, wenn Ihr gleich zu Beginn erfahrt, wie ich zu diesem gigantisch großartigen Film gekommen bin: über Facebook bin ich auf THE EXTRAORDINARY TALE OF THE TIMES TABLE aufmerksam geworden. Seine Premiere hatte Laura Alveas und José F. Ortuños Film im letzten Jahr während "Madrid de Cine", einer Filmmesse in der spanischen Hauptstadt. Gäste und Fachbesucher aus der Filmindustrie hatten demnach die einzigartige Möglichkeit, ihn vor allen anderen im "Princesa" zu sehen. Einen Abstecher nahm die sarkastische Komödie hierzulande in Tübingen: im Rahmen des "Cine Español" wurde der Film einem erlesenen Publikum in seiner Deutschlandpremiere gezeigt; anschließend konnte man über eine Live-Schalte mit den Regisseuren des Films sprechen.
Mittlerweile ist THE EXTRAORDINARY TALE in Hollywood gestartet, wurde in Denver gezeigt und wird ab dem 25. Juli seinen Kinostart in Spanien feiern.
Die "schwarze Komödie" oder das "dunkle Märchen" ist für ein internationales Publikum konzipiert, daher auch in englischer Sprache gedreht und an keinem bestimmten Ort gefilmt. Es könnte demnach überall und zu jeder Zeit spielen. Das Regieduo Alvea/Ortuño hat auch ein besonderes Augenmerk auf die Darsteller gelegt: diese sollten genauso international sein. Mit der deutschstämmigen Aïda Ballmann und dem in Amerika geborenen Ken Appledorn - der zuletzt beim Malaga Film Festival für sein darstellerisches Können ausgezeichnet wurde - haben die Filmemacher nicht nur diese Prämisse für sich erfüllt, sondern zwei der hervorragendsten, zeitgenössischen Schauspieler mit Akrobatik-Kenntnissen engagiert. Die Suche nach Aïda war besonders langwierig, erzählte José Ortuño mir im Interview. Sie hatten ein Casting organisiert und waren auf Aïdas Bewerbung aufmerksam geworden. Nun sollte sie eingeladen werden, aber zuvor musste kalkuliert werden, ob sich dies überhaupt für ihr extrem kleines Budget rechnen würde. Wie der Zufall es so will, befand sich die Schauspielerin zu der Zeit in der Nähe von Sevilla, wo die beiden Regisseure leben und arbeiten. So hatten sie eine außerordentlich gute Darstellerin an Land gezogen, die sie noch nicht mal extra einfliegen mussten.
Aïda spielt in dem Film die Rolle der unbedarften jungen Frau, die ihren Freunden auf ihrer alten Schreibmaschine seit Jahren Briefe schreibt, von denen noch kein einziger beantwortet wurde. Da taucht eines schönen Tages doch noch ein Briefumschlag in ihrem Briefkasten auf. "Er" lebt ähnlich wie "sie" zurückgezogen und findet Gefallen an ihren Briefen. Sie tauschen Ideen und Tipps aus, wie man die eigene Stimme trainiert, schreiben über Mütter und Kakerlaken und am Ende schlägt er vor, dass man sich doch mal treffen könne. Ihr misfällt diese Idee zunächst, doch dann lässt sie sich breitschlagen und so bahnt sich allmählich eine Liebesbeziehung an, der eine Schwangerschaft folgt, bald darauf die Hochzeit und schließlich der Alltag als Mutter eines aus dem Babystrampler herauswachsenden Kleinkindes. Ein süßer Bengel, der aber die junge Frau mit ihren Zwangsneurosen etwas über die Stränge herausfordert. Nie kann sie sich mehr richtig entspannen, nicht mit ihrem Gatten sich begatten; weder die Schreibmaschine ist vor dem Dreikäsehoch sicher, noch die Lieblingsspeise ihres Mannes. Es kommt, wie es kommen muss. Mehr wird aber auch nicht verraten. Nur so viel sei gesagt: über einen kleinen Schockmoment kommt man nicht herum, mag man noch so "kaltschnäuzig" sein. Aber hat man diesen überwunden und lässt sich davon nicht gänzlich abschrecken, dann löst sich der Verdachtsmoment bald in Wohlwollen auf. Es lohnt sich also, den Abspann abzuwarten. Ihr versteht nur Bahnhof? Ein Grund mehr, sich THE EXTRAORDINARY TALE anzuschauen. Ein weiteres Argument ist die Aufmachung: der visuelle Stil, an Filmen wie DELICATESSEN von Jean-Pierre Jeunet angelehnt, die bunte Welt, die von Künstlern wie Max Saucco, Tannia León und Jan Saudek kreiert wurde, erinnert auch ein wenig an DIE FABELHAFTE WELT DER AMÉLIE. Nur mit dem gewissen bitterbösen, skurrilen und mokanten Unterton, der von Gestik, Mimik und Körperlichkeit der Clownerie begleitet wird. Hier wird gleichfalls viel gelacht, es wird geliebt, gehasst und geschmunzelt. Im Mittelpunkt steht die Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich in einer besonderen Lebenssituation: der Mutterschaft. Die Sinnhaftigkeit und Sinnlosigkeit menschlichen Daseins, wenn man sich gewisse Dinge nicht traut oder wenn man es anderen überlässt, für sich zu bestimmen, dann aber auch nicht zufrieden mit dem Ergebnis ist, kummuliert zu einem Wirbelsturm der Entscheidungen, der Verantwortung und der "richtigen" Werte. Für Ortuño ist THE EXTRAORDINARY TALE eine Art soziologische Studie - eine gesellschaftliche Debatte, die vielleicht im Leben zu kurz kommt, wenn es darum geht, für Nachkommenschaft zu sorgen: Ist denn jeder automatisch mit dem richtigen "Rüstzeug" ausgestattet, um Vater oder Mutter zu sein? Das stellen die beiden Filmemacher auf bissige Art und Weise infrage. Letztlich bringt der Film - gewollt oder auch nicht - genau jene Antwort subtil über die Leinwand, die der gewiefte Filmleser wie auch der unerfahrene Kinogänger für sich erkennen kann: Man wird nicht als Vater oder Mutter geboren, man wächst zu solchen heran. Ich jedenfalls danke ganz herzlich für diesen ungewöhnlichen, kafkaesken Film, der einen der ersten Plätze in meiner persönlichen "Hitliste" erobert hat. Und ich danke meinen Kindern von Herzen, dass sie mir jeden Tag aufs Neue die Möglichkeit geben, an der Herausforderung "Muttersein" zu wachsen.



Zwischen Eiszeit und Wüste steht der Mensch

SNOWPIERCER - SPUREN / TRACKS

Früher fuhr ich auf dem Rummelplatz gerne Geisterbahn. Es war diese Mischung aus Thrill, also Hochspannung, Nervenkitzel, Grusel und Furcht, die mich einerseits abgestoßen, andererseits hineingelockt hat. Die Neugier war letztendlich stärker als die Angst. Was sich wohl hinter der nächsten Kurve, nach dem Tunnel, nach dem Rundbogen, hinter der nächsten Tür verbergen mag? So ähnlich erging es mir in SNOWPIERCER. Wobei es hier um Leben und Tod der Passagiere und Widerständler und deren Kinder geht, die nach einer sich weltweit ausbreitenden Naturkatastrophe im Jahr 2034 in einem fortlaufend durch die eisige Schneelandschaft fahrenden Zug gefangen sind. Ein sehr "krasser", brutaler Film, der einem Horrortrip gleicht und der das kindliche Schrecken in der Geisterbahn bei weitem übersteigt. Aber bei all seiner Gewaltdarstellung ergötzt sich der Film nicht daran, er wirkt nicht verherrlichend oder biedert sich einem sensationsgierigen Publikum an, sondern folgt seiner inneren und nachvollziehbaren Logik und einer Ästhetik, die wir aus anderen Apokalypsen auf der Leinwand nur bruchstückhaft kennen. Es ist ein Endzeitfilm, der - wie das Magazin "Deadline" zurecht schreibt - nur im Kino seine volle Bildgewalt entfalten kann. Joon-ho Bong führte in SNOWPIERCER die Regie. Allein mit seinem Ensemble hat der koreanische Filmemacher einen Coup gelandet: Tilda Swinton als arrogante, zynische Ministerin Mason und schmierige Untertanin des Eisenbahnkonstrukteurs und despotischen Herrschers Wilford - gespielt von Ed Harris, John Hurt als Gilliam, der als weiser Mann und Vorbild eine Art Vaterfigur für die Hauptfigur Curtis und seinen Mitstreitern darstellt, Song Kang-ho als Sicherheitsexperte und vermeintlichem Drogenjunkie Namgoong, Ko Asung als dessen Ziehtochter Yona, die übersinnliche Kräfte besitzt, und Chris Evans als Curtis, der Anführer der Revolution - ein gebrochener Held mit Ecken und Kanten, der nur ein Ziel hat: die letzte Tür zu erreichen, um die lebensbedrohliche, unerträgliche Situation für die Insassen und für ihn selbst zu beenden. Doch bevor es soweit kommt, müssen er und seine Helfer, wie die mutige Tanya, die für ihren Sohn in die Schlacht zieht, Andrew, der ebenfalls seinen Sohn retten will, und Jamie Bell als Curtis' rebellischer Freund Edgar, sich von Waggon zu Waggon durchkämpfen und so manche blutige Repressionsmaßnahme überstehen. 

In SNOWPIERCER werden die Allegorien menschlichen Lebens, unserer Gesellschaft, des Systems, in jedem Zugabgteil sichtbarer gemacht. Beginnend vom hintersten Abteil, wo sich Curtis und seine Freunde befinden und sich von den prekären Lebensbedingungen, der Willkür und Unterdrückung der herrschenden Klasse befreien möchten und Widerstand leisten, über den mittleren Zugabteilen, wo sich Namsoong und Yona befinden, die scheinbar kaum was von dem Elend mitbekommen haben, deren Situation im Zug-Gefängnis nicht viel besser ist, bis hin zu den vorderen Klassen, wo sich die reiche Minderheit, in Luxus schwelgend, in Sicherheit wähnt. Betrachtet man den Schneekreuzer als Welt, dann würden wir uns eher im mittleren bis vorderen Bereich befinden. Wir sind also Teil des Problems. Darüber kann auch die Kritik unserer Satiriker, so bissig und klug sie auch vorgebracht wird, nicht hingwegtäuschen. Mag man ihnen auch gute Absichten zusprechen: die Realität über die sie reden, ist von der unsrigen so weit entfernt, dass sich durch ihre Überzeichnung, hinter der stets ein Lacher folgt, nur wenig Empathie einstellen will. Manchmal schleicht sich sogar der Verdacht ein, dass dies durchaus gewollt ist; dass die Kritik, die an der herrschenden Klasse und der Regierung vorgebracht wird, nur halbseiden, eine Art Alibi ist, damit wir nicht allzu mitfühlend werden und uns womöglich mit dem "hinteren Abteil" solidarisieren. Die Realität übertrifft ja nicht selten unsere Vorstellung: Werden wir nicht tagtäglich Zeugen davon, wie brutale Schlägertrupps auf rebellierende oder gar friedlich demonstrierende Gruppen einschlagen? Ich sage nur: Türkei, Iran, Tunesien, Ukraine, Indien, Dubai, Brasilien... Werden wir nicht alltäglich mittels TV, Zeitschriften, Internet geblendet von der Welt der Reichen und Schönen, um uns einzubilden, darin sei das wahre Glück zu finden? 

Unsere jungen Helden im Film stehen am Ende alleine da, inmitten der menschenleeren, weißbedeckten Erde. Und plötzlich taucht wie aus dem Nichts ein Eisbär auf. 

Ein Tier, ein junges Mädchen und kleiner Junge - sie sind Hoffnungsträger für eine bessere, eine gerechtere Welt. 

Auch in SPUREN - TRACKS wird der Weg geebnet für eine neue Generation. Eine Generation Frau, die sich nicht unterordnen, nicht bevormunden und schon gar nicht einsperren lässt. Die ihren eigenen Weg geht. Vorerst geht es um einen Selbstfindungstrip, den die Abenteuerin Robyn Davidson im Jahr 1975 plant: sie möchte die australische Wüste alleine, in Begleitung ihres Hundes Diggity und einiger Kamele, bis zum Indischen Ozean durchqueren. Von der Großstadt Brisbane zieht die damals 24-Jährige nach Alice Springs und muss sich dort anhören, dass ihre Idee verrückt sei, dass sie die knapp 3.200 Kilometer in einer lebensfeindlichen Wildnis nicht überleben wird. Doch weder Freunde noch Familie - wobei sich der Vater, so sorgenvoll er auch sein mag, nicht wirklich dagegen ausspricht, war er doch selbst einmal als Abenteurer unterwegs  - können Robyn aufhalten. Nun fehlt ihr nur noch das nötige Geld für die Ausrüstung und für ihre Kamele. Ein Bekannter schlägt vor, dass sie sich an den National Geographic wenden und um Unterstützung bitten soll. Als der Deal mit dem Magazin glückt, muss sie ihrem Ideengeber, der Fotograf beim NG ist, gewähren, sie von Zeit zu Zeit auf ihrer Reise aufzusuchen und für das Magazin zu fotografieren. Nach anstrengenden Jahren, in denen sie Entscheidendes über die Kamelzucht lernt, ist der langersehnte Tag endlich gekommen. Fernab der Zivilisation spürt Robyn endlich, was es heißt, frei zu sein. Mit der Zeit sind es nicht nur die Fototermine und die sensationssüchtigen Touristen, die der ehrgeizigen aber zugleich auch sensiblen jungen Frau zusetzen. Auf ihrer Reise gerät sie in zunehmendst gefährliche Situationen. 

Mia Wasikowsa sieht der richtigen Robyn Davidson nicht nur äußerlich zum Verwechseln ähnlich. Die australische Jungschauspielerin, die uns schon in ALICE IM WUNDERLAND beeindruckte, bringt Davidsons Mut und Entschlossenheit und zugleich auch ihre verletzbare, sanftmütige Seite so authentisch und nah herüber, dass Grenzen zwischen Fiktion und Wahrheit vor unserem Auge verschwimmen. Keine Fata Morgana, kein großes Hollywood-Spektakel, sondern eine von John Curran in leisen Tönen erzählte, durchaus auch von gesellschaftskritischen Klängen begleitete, faszinierende, wunderschöne, poetische Geschichte einer einzigartigen Reise und Grenzerfahrung vor der atemberaubenden Kulisse der australischen Landschaft. 

"Die beiden wichtigsten Dinge, die ich gelernt habe, waren, dass man immer so stark und leistungsfähig ist, wie man es sich selbst erlaubt. Und dass der schwierigste Schritt einer jeden Unternehmung der erste ist, die erste Entscheidung zu treffen." Robyn Davidson

Ich weiß nur eins: Wenn die Erde mal zufrieren sollte, werde ich in keinen Zug steigen, sondern so lange laufen, bis ich die Wüste sehe und hoffen, dass da kein Bügeleisen auf mich wartet... 



WO DIE WILDEN KERLE WOHNEN Kennt Ihr den Ort, wo die wilden Kerle wohnen? Er ist nicht weit, ein Blick ins Kinderzimmer genügt. Dort trefft Ihr beispielsweise auf Max, einem 12-jährigen Jungen, der sich in seiner Freizeit meist alleine vergnügt, weil weder die ältere Schwester Claire, noch seine Mutter, die alleinerziehend ist und für den Lebensunterhalt der kleinen Familie sorgt, Zeit für ihn haben. Aus der Perspektive eines Jungen in seinem Alter betrachtet, ist es kein Wunder, dass sich Max zurückgestellt fühlt und seiner Frustration mit oft unnachvollziehbarem Verhalten Luft macht. Dass sich die Mutter wundert, warum der Sohn das Zimmer der Schwester verwüstet und empört, ja gar wütend reagiert als er sie, in Anwesenheit ihres neuen Lebensgefährten, angreift, ist verständlich. Doch wir wissen ein wenig mehr als die Erwachsenen und Heranwachsenden in dem Film. Wir können Max' Ängste (um die sterbende Sonne), Trauer und Einsamkeit (weil er mit Missachtung gestraft wird) gut nachempfinden. Das Leben eines 12-jährigen Jungen im Wolfspelz wäre um ein Vielfaches einfacher, gäbe es keinen Tiefkühlmais, keine Lehrer, die Hiobsbotschaften verkünden, gäbe es Geschwister, die sich lieber mit ihm beschäftigen, anstatt mit ihren Freunden abzuhängen; Mütter, die sich lieber die selbst gebaute Höhle anschauen, als mit dem Freund zu flirten. So (er)findet Max einen Ort, wo es übergroße Tierwesen gibt, die seine Gefühle widerspiegeln. Carol ist der Anführer der Gruppe, obwohl er sich als Außenseiter sieht. In seinem Zerstörungswahn merkt er nicht, wie gern ihn seine Freunde haben. Sie lassen ihn gewähren, obwohl Carol, blind vor Wut, ihre Behausungen dem Erdboden gleichmacht. Sie wissen, dass er sehr unter der Trennung von seiner geliebten KW leidet. Doch wie weit kann ein Schmerz spürender, wilder Kerl gehen, ohne andere zu verletzen? Max, der selbst ernannte König der eigentlich gar nicht so wilden, eher kuscheligen Zottelwesen, lernt bei seinen neuen Freunden, was es heißt, sich selbst zu beobachten, seine Fehler zu korrigieren und sich selbst im Sinne der Allgemeinheit zurück zu nehmen. Und vor allem lernt er eins: Seine Gefühle zu kontrollieren. Schließlich erkennt Max, dass Toleranz und Zugehörigkeit gar keine so großen, ungreifbaren Worte sind, und dass - egal wie wild man war - es immer einen Weg gibt, zurückzukehren und es wieder gut zu machen.

Kindheit besteht zu 90% aus Fantasie und zu 10% aus Aufstand. Die Schnittmenge daraus ist das Unberechenbare der Jugend, mit dem wir Eltern uns oft konfrontiert sehen.
Mit zu Tränen rührendem Gespür für die Herzensangelegenheiten eines Teenagers, inszeniert Spike Jonze die Bestseller-Geschichte von Maurice Sendak und weckt in bezaubernden Bildern, mit übergroßen Puppen die wilden Kerle zum Leben. Produziert hat das im Jahr 2009 erschienene Leinwandwerk mit dem Originaltitel WHERE THE WILD THINGS ARE niemand geringerer als Tom Hanks - der Garant für oscarverdächtige, familienfreundliche US-Produktionen. Ein Film, der Groß und Klein anspricht. Dabei verfolgt WO DIE WILDEN KERLE WOHNEN nur ein Ziel: es ordentlich krachen zu lassen! Denn schließlich ist man nur einmal jung! So bewegt sich Jonze's Film zwischen leisen Tönen und archaischem Gebrüll, angeführt von einem kleinen, tapferen Jungen, der stellvertretend für eine ganze Generation ungehorsam ist und trotzdem liebenswürdig und großherzig bleibt.



GRAVITY - Houston, wir haben ein Glaubwürdigkeitsproblem!

Losgelöst von der Anziehungskraft logischen Denkens schwebt die Space-Odyssee im Weltraum und manövriert sich von einer Katastrophe in die nächste. Natürlich kommen sexistische Ansichtsweisen beim Verlassen des Kinos nicht zu kurz: Frau am Steuer, ungeheuer. Frau heißt in dem Fall Dr. Ryan Stone, schimpft sich zwar "Missionsspezialistin" hat aber keinen blassen Schimmer von der Raumfahrt. Gemeinsam mit vier anderen Kosmonauten, darunter der Astronaut Matt Kowalski, befinden sie sich in dem Space Shuttle Nummer STS-157 im Weltall. Es ist Kowalskis letzter Einsatz, für die Ärztin Dr. Stone (hoffentlich verstand sie mehr von Medizin) ist es hingegen der allererste Flug und ihr erster Außeneinsatz im All. Und natürlich braucht sie, die mit anderen "Experten" hochgeschossen wurde, noch das Handbuch, um die Kapsel zu steuern.

Bei den Reparaturarbeiten am Hubble-Weltraumteleskop erfahren sie von der Kommandozentrale der NASA in Houston: Ein russischer Satellit (und kein anderer) wurde im Orbit zerstört und die Trümmerteile treiben nun ziellos in der  Umlaufbahn. Zunächst setzen die Astronauten ihre Arbeit fort, da aktuell laut Houston keine Gefahr bestehe. Kurz darauf läuten dann doch die Alarmglocken: Die Trümmerteile des bösen, bösen russischen Satelliten haben andere Satelliten getroffen und somit habe sich das Trümmerfeld dramatisch vergrößert. Der Außeneinsatz soll sofort abgebrochen werden. Sie haben nicht mal die Zeit, das Hubble vom Space Shuttle zu lösen - da schlagen die Trümmerteile mit voller Wucht auf. Einer der Kollegen wird tödlich getroffen. Die anderen zwei sterben irgendwie auch. Kowalski und Stone werden durch umherfliegende Trümmer vom Schiff weggeschleudert. Stone driftet hinaus ins offene Weltall. Das, meine Lieben, habt Ihr vermutlich auch ohne den Film gesehen zu haben, anhand der Trailer verfolgen können und dachtet: Wow, der muss ja total spannend sein, der Film! Nöp. In Wirklichkeit setzte ungefähr ab diesem Zeitpunkt die Langeweile bei mir ein, begleitet von einer eintretenden Müdigkeit, die Erdanziehungskraft im Kinosessel wurde immer stärker. Da ich mitten im Film einnickte - was mir im Normalfall höchst selten passiert - musste ich ein weiteres Mal in den Film. Diesmal gewappnet mit einem doppelten Espresso und Kaubonbons. Jetzt war ich wach, aber genervt. Denn was jetzt folgte, das war eine An­ei­n­an­der­rei­hung von unglücklichen Schicksalsschlägen gepaart mit einer großen, enormen Portion Dummheit: Nachdem Stone also in den unendlichen Weiten des Weltalls davongeschleudert wird, und sich um ihre eigene Achse dreht, kann Kowalski Funkkontakt mit ihr aufnehmen. Nur um sie zu beruhigen, erwähnt er, dass sie kaum noch Sauerstoffreserven hat. Keine Panik, Babe, ich rette dich, hätte Yippijajeh-Schweinebacke Bruce Willis gerufen. Gentelman Clooney versucht es auf die komisch-melancholische Tour. Und es gelingt ihm wenigstens, die Doktorin erfolgreich abzuschleppen, indem er sie mit seinem Gurt an sich befestigt (er hat Schubdüsen an seinem Rucksack und kann sich so gesteuert fortbewegen, der Schuft!). Nun machen sie sich auf dem Weg zum Shuttle, dort erwartet sie ein kurzes Horrorszenario (das erklärt die 12er Freigabe alles andere wäre für jeden Jungspund Kokolores); das Shuttle selbst ist nicht funktionsfähig. Also setzen sie ihre Reise fort - ihr nächstes Ziel: die ISS. Mit der dort vorhandenen Rettungskapsel wollen sie in die Erdatmosphäre eintreten. Aber auch die ist von den Trümmern beschädigt worden. Der Treibstoff für Kowalskis Steuerdüsen ist nun auch noch aufgebraucht. Tja, um das Ganze abzukürzen: Sie werden auf die Außenhülle der ISS geworfen, hängen an den Fäden des Bremsfallschirms, Kowalski löst sich und schwebt ins Nirvana; Stone ist nun auf sich alleine gestellt. Ihr gelingt es, in das Innere der ISS zu gelangen, dort bricht aber ein Feuer aus. Also wieder raus und rein in die Rettungskapsel. Das Haupttriebwerk der Kapsel ist hinüber. Also: Drifting bis die Feuerwehr kommt. Aber die kommt nicht. Sie versucht per Funkkontakt nach Hilfe zu rufen, aber leider ist am anderen Ende ein fremländisch sprechender Fischer, der ihr nicht weiter helfen kann. Kowalski taucht just in dem Moment aus dem Nichts auf, als sich Stone das Leben nehmen will und weist ihr den Weg zur chinesischen Raumstation Tiangong 1. Wie er erschien, so verschwindet er wieder. Ein Traum? Ein Geist? Egal. Stone weiß nun, was sie tun muss. Und sie scheint plötzlich aufgewacht zu sein, vielleicht hat sie sich auch an die McGyver-Folgen erinnert, die sie während der Astronautenausbildung gesehen hat: Mittels eines Feuerlöschers gelangt sie zur chinesischen Shenzhou-Rettungskapsel, die aber leider auch von den Trümmerteilen getroffen wurde. Ein kontrolliertes Landen ist daher nicht möglich. Stone schafft es immerhin in letzter Sekunde, die chinesische Rettungskapsel von der Raumstation zu lösen und die Kapsel in einem See auf der Erde landen zu lassen. Am Ende öffnet sie vor lauter Erleichterung noch die Luke der Kapsel und lässt fein das Wasser reinströmen um noch um ein Haar dem Ertrinken zu entkommen. Was nicht alles passiert, wenn man ohne richtige Astronautinnenausbildung ins All befördert wird...

Hollywood hält uns wohl für total belämmert. Immerhin funktioniert in manchen Szenen ihr "Auf-die-Tränendrüße-Knöpfchen" noch ganz gut. Aber was hätte man alles aus diesem Stoff stricken können! Man hätte das unkontrollierte Schweben im All länger hinauszögern können, die blanke Angst besser herausarbeiten und die nachfolgenden Unglücksfälle auf ein authentisches Maß reduzieren können. Die Krönung des Ganzen: Der Film Gravity, siebenfach mit den Academy Awards 2014 ausgezeichnet, bekam unter anderem den Oscar für den Besten Ton und den Besten Tonschnitt.
Man wollte trotz des bekannten Umstands, dass im Weltall nichts zu hören ist, eine reiche, dynamische und dramatische Soundlandschaft und damit auch eine besondere Atmosphäre schaffen, erklärt uns Regisseur Alfonso Cuarón. In den Weiten des Alls scheinbar kein leichtes Unterfangen, auch wenn man mit pseudo-physikalischen Gesetzen zu argumentieren sucht, die Geräusche seien per Vibration wahrnehmbar, weiß schon mein skeptischer Sohn anzumerken: "Vibration spürt man. Geräusche hört man. Und im Vakuum, d.h. im Weltraum ist keine Schallübertragung möglich." Houston wir haben ein Glaubwürdigkeitsproblem... 



WIE DER WIND SICH HEBT - so sinkt die Moral?

Vielleicht hätte ich doch nicht nach Venedig reisen sollen. Vielleicht war diese, die 70. Edition der Filmfestspiele in Venedig, für ein bestimmtes Publikum ausgerichtet, zu dem ich mich (glücklicherweise) nicht zähle. Warum? Und was hat das alles mit Hayao Miyazakis wahrscheinlich letztem Film zu tun? Nun ja, in diesen Tagen habe ich erfahren, dass die Unterdrückung der Frau leider noch immer Thema im Film ist und dass es zwar engagierte Werke gibt, die aber über ein bloßes klischeehaftes Abbilden der Opferrolle nicht hinauskommen. Und ich habe das Gefühl, es geht "ein Geist um" über die diesjährige Biennale, der sich einst einiger Filmemacher ermächtigte und sie zu nationalistischen Veherrlichungen animierte und nun allesamt am Lido vereint. WIE DER WIND SICH HEBT sollte die steile Karriere von Miyazaki (PRINZESSIN MONONKE, CHIHIROS REISE INS ZAUBERLAND, DAS WANDELNDE SCHLOSS) gebührend beschließen. Stattdessen rief der Animationsfilm mit autobiografischen Elementen (Miyazakis Vater war Flugzeugunternehmer in Tokio) sowohl linke als auch konservative Kritiker auf den Plan. (Niemandem kann man es recht machen! ) Ich habe weder von diesen Kritiken gehört noch habe ich sie im Vorfeld gelesen, da ich vorurteilsfrei, ganz unvoreingenommen an die Filme herangehe. Und bislang schätzte ich Miyazaki auch sehr als Animationsfilmer der ersten Stunde. Immerhin war er einst mit an der Realisation der Heldin meiner Kindheit beteiligt: HEIDI. Und er trotzte Tapfer dem neuen Trend der Computeranimation - im Studio Ghibli wird noch vorwiegend von Hand gezeichnet. Aber was war bitteschön mit diesem Zeichentrick-Genie geschehen? Sein neuestes Werk trieft förmlich vor Pathos. Getragen wird der patriotische Höhenflug von durchaus sehenswerten Landschaftsaufnahmen, poetischen Bildern und einer sentimentalen Leitmusik, die das Tempo des Films teilweise auf ein Herzstillstand-Niveau verlangsamen. Dabei verlässt Miyazaki genau jenes Terrain, für das er stets zu Recht so viel Lob einheimste: er brachte es fertig, Traumwelten zu erschaffen, in die man sich nicht nur als Kind wiederfinden wollte. Und nun? Die Vorstellungskraft spielt eine auf die schiere Unerkennbarkeit dezimierte Rolle. Kaum Fantasie nur noch Historie, die sich apolitisch gibt, aber eine Grundeinstellung zulässt, nach der die Hauptfigur, der Flugzeugingenieur Jiro Horikoshi, mit Persönlichkeiten sympathisiert, die eindeutig einem bestimmten politischen Lager zugeordnet werden können. Dies ist in jenen Traumszenen der Fall, in denen der italienische Flugzeugbauer Gianni Caproni mit ihm spricht. Sein Held beschönigt nicht nur die kriegerischen Vorboten, er war nicht nur an den technischen Entwicklungen schwerer Bomber maßgeblich beteiligt, nein Caproni war der Erfinder von Strahlflugzeugen und anderer Höllenmaschinen, die den mörderischen Zweck nicht verfehlten. 1940 wurde Caproni zum Conte di Taliedo ernannt. Obwohl er nach Kriegsende als Kollaborateur gesucht wurde, kam der Flüchtling frei und wie von Geisterhand geleitet, wurde ihm seine Unschuld bescheinigt. Tja, dieser Luftfahrtunternehmer ist es, der Jiro also als Vorbild dient. Dem Filmemacher wird vielleicht zu Unrecht vorgeworfen, dass er sich zu sehr um das Seelenheil der Hauptfigur sorge - dessen größten Sorgen wiederum die Konstruktion von Kriegsflugzeugen und die schwer erkrankte Frau sind - statt eine klare Position einzunehmen und die Auswüchse des Krieges näher zu beleuchten. Das ist legitim. Und es ist auch durchaus legitim, Fiktion mit Tatsachen zu vermischen. Nur darf ein Animationsfilm, der ab 6 Jahren freigegeben ist, tatsächlich so unkritisch mit den realen Ereignissen umgehen? Horikoshis Erfindung war im Zweiten Weltkrieg für den Tod vieler Unschuldiger verantwortlich. Miyazaki fliegt, getragen von viel heimatlichem Schmalz, mit einem überschwänglichen Grundton, der einer Glorifizierung kriegstreiberischer Zeiten gleichkommt, über diese Tatsache blindlings hinweg, geradewegs in die Arme nationalistischer Gesinnungsgenossen. Oder wie Dieter Kleibauer schreibt: "Man fragt sich, ob in Deutschland momentan ein vergleichbarer Film über deren Entwickler Willy Messerschmitt möglich wäre". Ich glaube nicht. Und das ist auch gut so.



DAS ERSTAUNLICHE LEBEN DES WALTER MITTY

Von der Kraft der Imagination handelt das Remake des 1947 erstmalig auf die Leinwand projizierten Films THE SECRET LIFE OF WALTER MITTY/DAS ERSTAUNLICHE LEBEN DES WALTER MITTY, damals mit dem großartigen Danny Kaye in der Hauptrolle.

Ich kann Euch sagen, dieser Film ist alles andere als eine schnöde Nachmache! Ben Stiller glänzt in der für mich bislang besten Rolle, die er je verkörpert hat - seiner absoluten Paraderolle. Der Film stellt so ziemlich alle bis jetzt gesehenen Selbstfindungs-Filme in den Schatten. Denn hinter dem mitreissenden Selbstfindungstrip mit berauschenden Landschaftsaufnahmen und den grandiosen und urkomischen Tagtraum-Szenen steckt noch, klug eingefädelt, eine Hommage an die Fotoreportage und seinen stillen Schöpfern, die oft unerkannt bleiben.

Aber fangen wir von vorne an: Walter Mitty arbeitet im Fotoarchiv des LIFE- Magazins in New York. Er ist ein introvertierter, schüchterner Zeitgenosse, der sich oft in seine Tagtraum-Phantasien verliert. So bekommt er auch ziemlich spät mit, dass das LIFE-Magazin in seiner gedruckten Erscheinungsform eingestellt werden soll und damit einhergehend etliche Stellen wegrationalisiert werden. Für die Übergangsphase wurde eigens der Manager Ted Hendricks einberufen, der Walter das Leben noch zusätzlich schwer macht. Die letzte Print-Ausgabe wird für Walter zum Verhängnis und die Möglichkeit zum Ausbruch zugleich. Denn für das Cover hat der eigensinnige Starfotograf Sean O'Connell ein bestimmtes Foto-Negativ (ja, so hieß es früher mal...) im Sinn, dass er Walter in einem Päckchen zukommen ließ. Walter und sein Kollege im Archiv suchen krampfhaft nach Bild Nr. 25, können es aber nicht finden. In seiner Verzweiflung reist Walter dem umtriebigen O'Connell hinterher. Vorher noch gelingt ihm ein kleiner Durchbruch in Sachen Liebesangelegenheiten: Walter ist nämlich bis über beide Ohren in seine Kollegin Cheryl verknallt und traut sich nicht, sie bei der Arbeit anzusprechen. Stattdessen versucht er online, den Kontakt herzustellen. Aber irgendwie scheint das liebe Internet nicht gut auf ihn gestellt zu sein. Vielleicht liegt es daran, dass er noch an keinem "denkwürdigen Ort" war? Das soll sich ändern. Sein Leben auf "einem anderen Planeten" - wie Walters Schwester sein träumerisches Abdriften scherzhaft nennt - wird verlagert auf das Hier und Jetzt, die Realität. Und die ist viel reizvoller, atemberaubender als sich Walter je erträumen ließ.

Deutlich ernster sind die Töne in Stillers neuem Werk, als wir es von ihm gewohnt sind. Aber auch tiefsinniger. Und das gibt dem Film seine Einzigartigkeit. Schade nur, dass DAS ERSTAUNLICHE LEBEN DES WALTER MITTY gegen Ende in gewohnte Filmmuster zurückgeführt wird. Das lässt aber dem Gesamtwerk durchaus keinen Schiffbruch erleiden. Die Höhenflüge, die Ben Stiller in seiner fünften Regiearbeit kreiiert, lassen sich gar nicht so leicht beschreiben. Am besten, man erlebt sie selbst...



INSIDE LLEWYN DAVIS

Wir schreiben das Jahr 1961. Was macht ein erfolgloser New Yorker Folksänger ohne Zuhause und mit nur wenigen Cents in der Tasche? Der junge Llewyn Davis ist ein ebenso ambitionierter wie ruhmloser Musiker, der in der aufkeimenden Folkszenen von Greenwich Village sein Glück versucht. Er lebt für die Folkmusik, doch der große Durchbruch lässt auf sich warten. Während sich in den Clubs vom Village aufstrebende Künstler die Klinke in die Hand geben, pendelt Llewyn zwischen kleinen Gigs und Songaufnahmen. Nacht für Nacht sucht er einen neuen Platz zum Schlafen und landet dann meist bei befreundeten Musikern wie Jim und Jean, mit der ihn mehr als eine oberflächliche Freundschaft verbindet. Er durchstreift die Straßen Manhattens, schläft fast jede Nacht auf einer anderen Couch und wird so auch en passant zum Vater eines ungeborenen Kindes. Ein andermal sperrt Llewyn, nachdem er ausgeruht und gefrühstückt hat, die geliebte Katze eines Ehepaars aus, die er dann einfach nicht mehr los wird. "Uylsses", so heißt der freche Kater - rein zufällig hieß so auch George Clooney als Sträfling in O BROTHER WHERE ART THOU?, einem der Vorgängerfilme der Coen-Brüder - soll dem chronischen Pechvogel so etwas wie Glück bescheren. Aber natürlich kommt Llewyn in dieser tragikomischen, lakonischen Geschichte nie auf einen grünen Zweig. Zumindest wird dem Folksänger nicht langweilig. Llewyn, der einst im Duo auftrat und den herben Verlust seines Freundes noch nicht verarbeitet hat, seinen Vater, einen ehemaligen Marineoffizier, im Pflegeheim besucht und mit keinem so recht über seine Gefühle sprechen kann, lässt sich von kleinen bis mittelschweren Rückschlägen nicht unterkriegen. Schließlich stirbt die Hoffnung bekanntlich zuletzt. Und so lässt er sich weitertreiben - von New York bis Chicago und wieder zurück, ganz wie die Figuren in den Folksongs. Und trifft dabei auf schräge Typen - ganz wie in den Coen-Filmen.

Sie sind wieder da, die coolen Filmbrüder: Mit ihrem neuen Film INSIDE LLEWYN DAVIS, bereits mehrfach ausgezeichnet und für den Golden Globe nominiert, entführen Joel & Ethan Coen uns auf einen faszinierend-skurrilen Trip durch die lebhafte Folkszene New Yorks in den frühen 60er Jahren - die Wiege von Musiklegenden wie Bob Dylan und Joni Mitchell. Oscar Isaac brilliert in der Hauptrolle des eigenwilligen Folksängers, der den Weltschmerz besingt und dessen Versuche, im Leben und in der Musik Fuß zu fassen, die Verlorenheit einer ganzen Generation spiegeln. An seiner Seite begeistern u.a. Carey Mulligan und Justin Timberlake, die ebenso wie Isaac alle Songs im Film live singen. Und auch die weiteren Rollen sind u.a. mit Garrett Hedlund, John Goodman und F. Murray Abraham hochkarätig besetzt. Joel & Ethan Coen, die das Drehbuch schrieben und Regie führten, haben nun wieder in ihrer Heimatstadt New York gedreht und folgen mit INSIDE LLEWYN DAVIS ihrer musikalischen Leidenschaft, die sie einmal mehr mit Erfolgsproduzent T. Bone Burnett zusammenbringt. Mit Unterstützung von Marcus Mumford, Sänger und Songwriter einer der aktuell angesagtesten britischen Bands, "Mumford & Sons", entstand ein Soundtrack, der auf geniale Art und Weise moderne und klassische Musiktraditionen verbindet und an das Bluegrass-Revival von THE BROKEN CIRCLE BREAKDOWN anknüpft. Für die visuelle Umsetzung von INSIDE LLEWYN DAVIS zeichent Bruno Delbonnel verantwortlich, der schon für atemberaubende, träumerische Szenenbilder in DIE FABELHAFTE WELT DER AMELIE sorgte. Wie von den Coens gewohnt, kommt auch diese Story vom idealistischen Verlierer nicht ohne lakonischer Situationskomik aus. Und wie in THE ARTIST gelingt es einem Begleiter auf vier Pfoten - hier einer Katze - dem Hauptdarsteller fast die Show zu stehlen. Ein wahres musisch-cineastisches Highlight, das man sich nicht entgehen lassen sollte!



WHERE'S THE BEER AND WHEN DO WE GET PAID? Ein internationaler Heimatfilm über Sex, Drugs, Rock 'n' Roll und keine Rente.

Wenn zwei Regisseurinnen wie Böller und Brot sich einer Musiklegende annehmen, dann kann man davon ausgehen, dass ihre Dokumentation alles andere als trocken und nüchtern ist. Ihr Humor begleitet stets ihre filmische Arbeit. Mit einem Augenzwinkern nähern sich Wiltrud Baier und Sigrun Köhler ihren Protagonisten. Und in diesem Fall trafen sie glücklicherweise auf einen Seelenverwandten, der trotz Krebserkrankung, sich seine Art und Weise mit dem Leben und dem Tod umzugehen, bewahrt hat. Das beginnt schon damit, dass es den aus Texas stammenden Jimmy Carl Black, eigenwilliger und -sinniger Schlagzeuger und einstiger "Indianer" in der Gruppe um Frank Zappa, nach Höpfling, Bayern verschlug. Wer würde einen solchen Kulturschock ohne jeglichen Sinn für Humor ertragen? Gut, die Liebe spielt dabei auch eine wichtige Rolle, denn hätte Jimmy nicht seine Moni kennengelernt, wäre er wohl auch nie in die Lederhosenprovinz geraten. Aber es gibt Schlimmeres, wie uns Jimmy in WHERE'S THE BEER AND WHEN DO WE GET PAID berichtet: Zum Beispiel die teuren Drumsticks, für die er in den USA in der Regel einen Sonderpreis aushandelt - manchmal kriegt er sie dort sogar für umsonst. Oder die Tatsache, dass er weiter um die Gegend tingeln muss, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, da es keine gesetzliche Rente für Musiker in den USA gibt, zumindest ist es in seinem Fall als Rocklegende so. Berühmt aber dadurch noch lange nicht reich. Die Versprechen, die ihm Zappa gab, erfüllten sich nur teilweise. Das wirft der rüstige Schlagzeuger seinem damaligen Arbeitgeber im Film vor, gleichzeitig schwingt in seinen Äußerungen auch etwas Versöhnliches, Abschließendes mit. Ja, Frank Zappa war ein Schuft - oder ein gerissener Geschäftsmann. Aber durch ihn hat es Jimmy auch zu Ruhm gebracht. Und auch wenn an einem Verkaufsstand in Höpfling die nette Dame, die neben ihm steht, nicht so recht was mit ihm und dem Namen Zappa anfangen kann - sie habe in ihrer Jugend eben eine andere Musikrichtung bevorzugt, erklärt sie fast schon entschuldigend -  könnte es ihn dafür umso mehr mit Stolz erfüllen, dass der Trommler der Musikkapelle Vogling-Siegsdorf, Franz Biermaier, seine damalige Band, The Mothers of Invention, kennt. Wie es dazu kam, dass Gitarrist Frank Zappa bei Blacks Band, den Soul Giants an der Tür klopfte, um kurz darauf das Ruder an sich zu reissen und die Band in "Mothers of Inventions" umzubennen, das ist ein anderes Kapitel. In einem "internationalen Heimatfilm" gibt es zwar Platz für Allerlei, zum Beispiel auch für bayerische Einwohner, die Rockmusik für "neumodisches Zeug" halten - was für Junkies - und die entgegengesetzter Ansicht sind, wenn es darum geht, ob es gut ist, berühmt zu sein oder nicht. Oder auch für eine Seniorenband, die mit Sex, Drugs & Rock'n'Roll nichts am Hut hat und lieber für Stimmung unter den Altersgenossen sorgt. Diese Doku widmet sich jedoch dem legendären Drummer in seinem Hier und Jetzt, zwar mit Verweisen und Erinnerungen, aber mit dem Fokus, den Menschen Jimmy zu porträtieren, ihm ein filmisches Denkmal zu setzen und Seiten des Sängers, Schlagzeugers und Schauspielers (200 MOTELS) zu zeigen, die in keiner Biographie zu finden sind.  

Wiltrud Baier und Sigrun Köhler begleiteten Jimmy Carl Black auf seiner letzten Reise nach Amerika, ließen Bandmitglieder, Freunde und Angehörige zu Wort kommen und fingen dabei in teils komischen, teils anrührenden aber niemals rührseligen Bildern die letzten Tage des Rockstars ein. Gelungen ist ihnen eine einzigartige, herzerwärmende, bewegende, humor- und zugleich respektvolle Charakterzeichnung. In dem Kontrast zwischen traditioneller Musik und Rockklängen, zwischen Höpfling und L.A. spiegelt sich das Leben des einstigen, jungen Musikers wider - das, auch wenn es von heute auf morgen endete, so Jimmy, "ein verdammt gutes Leben" war.  



PRINCE AVALANCHE

Neben weiteren Top-Filmen, wie CAN'T BE SILENT, APPASSIONATA, GUERILLA KÖCHE, MR. MORGAN'S LAST LOVE sowie dem Cannes-Gewinner LA VIE D'ADÈLE, brachte das Freiburger Filmfest-Team mit PRINCE AVANLANCHE, der auf der diesjährigen Berlinale mit dem Silbernen Bären für Beste Regie ausgezeichnet wurde, einen wunderbar komischen, warmherzigen, metaphysischen, poetischen, lakonischen, einen in sich ruhenden, zu sich findenden Männerfilm, den David Gordon Green nach seinem nicht sonderlich rühmlichen Ausflug nach Hollywood wieder auf die Leinwand gezaubert hat. Es geht um einen Naturburschen und seinem misratenen Schwager in spe - Alvin und Lance - die irgendwo in einer verlassenen Einöde, am Bastrop State Park bei Austin, Texas, die Aufgabe haben, eine schier endlose Straße durch abgebrannten Wald mit gelben Mittelstreifen zu versehen. Der grüblerische Alvin - gespielt vom einzigartigen Paul Rudd - schreibt seiner Freundin Madison lange Briefe. Den jungen Lance - dargestellt von Schauspielwunder Emile Hirsch - hat er nur unter seine Fittiche genommen, weil er ihr Bruder ist. Doch der hasst den Job und die einsame Gegend und sehnt das Wochenende herbei. 
Obwohl er als Außenseiter gilt, rechnet er sich gute Chancen bei den Frauen aus und will daher in die Stadt - feiern und Mädels aufreissen. Frustriert kehrt er nach dem erfolglosen Wochenende wieder zurück in den Wald, um Alvin weiterhin bei der Arbeit zur Hand zu gehen. Doch schon bald machen sich der Frust und die unterschiedlichen Lebensauffassungen breit, getoppt wird das Ganze noch vom Beziehungsknatsch zwischen Alvin und Madison. 
Inmitten dieser Querelen bringt David Gordon Green eine geisterhafte, ältere Frau und einen trinkfesten, älteren Truckerfahrer ins Spiel, die der vermeintlich einfachen, kleinen Geschichte eine zweite, metaphysische Ebene verleihen. Als wäre das ganze ein Traum.. 
Angefangen, so Green, hat tatsächlich alles mit einem Traum - der Traum von einem kleinen persönlichen Film mit Freunden und ohne teuren Hollywood-Apparat. Der Independentfilmer träumte den Namen PRINCE AVALANCHE und dachte beim Aufwachen: Was für ein cooler Filmtitel!" Damals hatte im Bastrop State Park vor den Toren Austins ein Waldbrand gewütet. David Green sah die surreale Baumlandschaft und wusste: "Hier will ich drehen!" Er hatte einen Titel, den Schauplatz und die Geschichte fand er in einem isländischen Roadmovie mit dem Titel EITHER WAY. Und was könnte einem echten Männerfilm über echte Freundschaft mehr Authentizität verleihen, als wenn echte Freunde mitmachen? Paul Rudd und Emile Hirsch wurden entgegen ihrer Standardrollen in seinem Remake besetzt: Rudd, der Komiker, durfte seine dramatische Seite zeigen, Emile Hirsch, der Charakterdarsteller aus INTO THE WILD, seine komische. 
"Lance LeGault, ein Cowboy von altem Schrot und Korn", so Green, "machte den Trucker zum Ereignis. Und Joyce, die in der Asche nach Erinnerungen gräbt, verleiht dem Ganzen eine magische und existentielle Note." Der Grundgedanke des Films war es, die zwei Seiten, die in jedem von uns stecken - das Kind und den Erwachsenen in uns - glaubwürdig und in all seinen Facetten auf die Leinwand zu bringen. Der Film spielt mit der Idee des anderen Ichs - dem geflügelten Wort "alter Ego" - des eigenen Ichs in seinen zwei Varianten. So schrieb Green die vorgefertigte Geschichte um und machte sie zu seiner eigenen: "Ich wollte etwas einzigartiges, dem ich meinen Stempel aufdrücke. Diese beiden Figuren sind eigentlich ein Gespräch zwischen zwei Versionen von mir selber. Die Art, wie ich mit mir selber streite oder mir gegenüber als Advokat des Teufels auftrete", erklärt Green.  Aber es ist auch mehr als das: Dem Filmemacher gelingt mit seiner dem eigenen Rhythmus folgenden Komödie über die kleinen Unzulänglichkeiten der Menschen, gespickt mit all den Absurditäten, die das Leben so mit sich bringt, ein Film über und um die wahre, innere Größe.  Ein Film wie sein Festival: Relaxte, anspruchsvolle Unterhaltung erster Güte! 



THE LONE RANGER
Welches Kind in den Staaten kennt ihn nicht, den großen Westernhelden "Lone Ranger" und seine sagenhaften Geschichten? Zumindest in einer Wii-Konsolen-freien Zeit, da wusste jeder Junge, was er draußen mit seinen Kumpels gegen die drohende Langeweile unternehmen könnte: Mit Maske, Hut und Federn kostümiert begab man sich auf den Pfaden des Rangers ... Der kauzige Indianer Tonto erzählt indes seine ganz eigene Version der Geschichte um den maskierten Titelhelden: Die berühmten Texas-Ranger sorgen für Recht und Ordnung - meistens jedenfalls. Als die gefürchteten Cavendish-Gang in einem spektakulären Gewaltakt einen Zug überfällt, um ihren Anführer Butch aus den Händen der Ranger zu befreien, nimmt die Sache ein böses Ende und Greenhorn John Reid bleibt dem Tode geweiht in der Wüste zurück, bis Tonto ihn findet und ihm das Leben rettet. Als hätte er nicht schon genug an der Backe mit dem "falschen Bruder", der laut dem Orakel aus dem Jenseits in Pferdegestalt derjenige sein soll, der Butch das Handwerk legen wird, sieht sich Tonto einigen lebensgefährlichen Situationen ausgesetzt. Beide nehmen trotz des Zwiespalts und unterschiedlicher Auffassungen den Kampf für das Gute auf sich - der totgeglaubte John gibt sich nunmehr mit dunkler Maske und weißem Hut als Lone Ranger die Ehre, während sich Tonto.. naja, eben mit schwarzen Strichen im weiß angemalten Gesicht, einer toten Krähe und Federn auf dem Kopf der bösen Kräfte zu entledigen sucht. 
Eigentlich spielt Johnny Depp nicht nur eine weitere Rolle, es ist vielmehr die Fortführung seiner Paraderollen in FLUCH DER KARIBIK und THE BRAVE; Johnny Depps Regiedebüt aus dem Jahr 1997 - der, wie ARIZONA DREAM und anderen Independent-Produktionen, in denen Johnny Depp agierte, eher einem kleinen, erlesenen Publikum bekannt sein dürfte. Verblüffend ist seine Ähnlichkeit als alternder Tonto mit Dustin Hoffmann als Jack Grabb in LITTLE BIG MAN. Mag sein, dass auf alt "getrimmte" junge Darsteller immer so aussehen, aber auch thematisch lassen sich die Parallelen nicht verleugnen - die plötzliche Wandlung, eine neue Sicht auf die Dinge, dem Bruch mit dem bis dato geltenden Mythos des Wilden Westen, wo die Indianer stets die Bösen waren... Das lag dem Leinwandstar auch sehr am Herzen. Neben Marlon Brando machte er damals nicht nur eine gute Figur, er setzte sich wie sein Mentor, gegen die offene und subtile Diskriminierung der Ureinwohner Amerikas durch die weiße Bevölkerung ein. Und die Geschichte wiederholt sich, wie man sieht, vorallem dann, wenn die Menschen nicht daraus lernen: Obwohl der Film THE BRAVE in Cannes großes Lob erfuhr und an der Croisette sehr erfolgreich aufgeführt wurde, erhielt er von US-amerikanischen Kritikern durchweg schlechte Kritiken. Johnny Depp war darüber so aufgebracht, dass er sich weigerte, den Film in den USA zu veröffentlichen. In Deutschland ist der Film auf DVD erhältlich. 

Irgendwie machen sie sich doch immer wieder zum Affen, die Kritiker der US-Presse mit ihren Unkrufen, angesichts der äußerst gelungenen, überragend guten Verfilmung der Wild-West-Radio-Heldensaga und des enormen Zuschauerandrangs in Europa. Politisches Interesse zu unterstellen deutet in diesem Fall nicht von Verschwörungswahn. Wir indes erfreuen uns eines fetzigen Westernfilms, der auf der gleichnamigen Radiosendung und späteren Fernsehserie DIE TEXAS RANGERS basiert. Unter der Regie von Gore Verbinski gedreht, von Jerry Bruckheimer und der Walt Disney Company produziert, legte nicht nur der Jack-Sparrow-Mime eine glänzende, darstellerische Leistung als die Hauptpfigur "Tonto" hin; auch sein Kompagnon Armie Hammer, für dessen Rolle zunächst Brad Pitt und Ryan Gosling vorgesehen waren, brilliert als John Reid alias Lone Ranger. Während der in der ursprünglichen Geschichte als "Handlanger" geltende Tonto eher die Nebenrolle spielte, ist es - so von Gore und Depp vorgesehen - nun ein gleichwertiges, ein emanzipiertes, gleichgestelltes Team. Und dennoch sollte bei aller "political correctness" auch der Spaß an actionreichen, gruseligen, witzigen Szenen nicht zu kurz kommen. Klar darf sich das Duo dabei auch etwas trottelig geben, darf die als Bordellbesitzerin agierende Lieblingsfilmpartnerin Helena Bonham Carter mit ihrer Prothese schießen und der Bösewicht Butch einem Horrorfilm entsprungen sein. 

Darf gelacht und nachgedacht werden, in einem einzigen Film? Diese Frage richte ich an meine hiesigen Kritikerkollegen, die von "Zerrissenheit" schreiben und sich dabei so gebärden, als schließe eine "würdige Darstellung" komödiantische Einlagen aus. Ich glaube, den Herren (sind es ja zu allermeist) fehlt es nicht nur an filmischem Verständnis sondern insbesondere an Humor! Und wenn schon Situationskomik, dann bitte nicht ohne entsprechende Kennzeichnung, ja! Wo kommen wir denn hin...?




BB KING - THE LIFE OF RILEY
Nur eine Note, und man weiß, von wem die Rede ist: BB King. Mit der herzerwärmenden, aufschlussreichen und berührenden Dokumentation BB KING - THE LIFE OF RILEY, erzählt von Morgan Freeman und mit Beiträgen von Eric Clapton, Bono, Ringo Starr, Carlos Santana - um nur einige zu nennen - bringt Regisseur Jon Brewer den zur lebenden Legende gewordenen Blues-König auf die Leinwand.
Um eine möglichst dichte Dokumentation zu bekommen, begleitete Brewer BB King über zwei Jahre lang und erstellte mehr als 250 Stunden Material. Entstanden ist ein kompromissloser, starker Dokumentarfilm, der schildert, wie ein 1925 in Mississippi geborenes Kind afrikanischer Herkunft sein Leben in die Hand nahm, gegen alle Widerstände und den unerbittlichen Rassimus kämpfte, die härtesten Kritiker im Musikgeschäft überzeugte und zum König des Blues wurde, der bis heute mehr als 15 000 Konzerte gab und 40 Millionen Platten weltweit verkaufte. 
Der Film versammelt die berühmtesten Rock 'n' Roller der Welt, die den ungeheuren Einfluss von BB King auf ihre Musik reflektieren - bspw. wollte John Lennon so gut Gitarre spielen können, wie der King of Blues. BB KING - THE LIFE OF RILEY zeigt beeindruckends Archivmaterial der großen Tourneen des Ausnahmemusikers. Und er führt in zahlreichen Interviews vor, dass King trotz des Riesenerfolges ein bescheidener, bodenständiger und zutiefst engagierter Mensch geblieben ist.



CHILD OF GOD
Eigentlich hatte ich Euch an dieser Stelle die Rezensionen der Filme BB KING, PRINCE AVALANCHE und LONE RANGER versprochen. Angesichts der 70. Mostra Internazionale d'Arte Cinematografica, bei der CHILD OF GOD seine Weltpremiere feierte, und da James Franco - auf meiner Rezensionsseite weiter unten als Zauberer von Oz zu erblicken -  bei diesem Regie führte, bot es sich an, mir den Film als "ars delicti" eines erfolgreichen Akteurs vorzunehmen. Die anderen Kritiken bzw. Rezensionen folgen noch, großes Indianerehrenwort! 
CHILD OF GOD ist nunmehr Francos achtzehnte Regiearbeit - Nummer 19 BUKOWSKI und 20 BLACK DOG, RED DOG nicht mitgerechnet, deren Erscheinungstermin noch nicht feststeht. 
Franco wird gerne als Multitalent und Tausendsassa bezeichnet, der neben seinem Hauptberuf, der Schauspielerei, noch dichtet, Drehbücher und Kurzgeschichten schreibt, malt, Video-Installationen gestaltet und eben auch Filme dreht. Und das am laufenden Band. Kein Wunder also, dass da das ein oder andere Werk, gelinde gesagt, nicht ganz so den Erwartungen und Vorstellungen eines leinwanderprobten Publikums entspricht und den kritischen Kinogänger nicht vollends überzeugen kann. Cormac McCarthys Roman, den Franco filmisch umgesetzt hat, erzählt die auf einer wahren Begebenheit beruhende Geschichte von Lester Ballard, einem Außenseiter mit irisch-deutschen Wurzeln, der in den Bergen Sevier Countys, in Tennessee lebt und allmählich zum Soziopathen wird. Seiner Familie und seines Heims beraubt, zieht sich Lester in den Wäldern zurück, verliert so den menschlichen Kontakt und verwildert zusehendst. Damit einhergehend wächst in Lester die Bereitschaft zu morden. Zunächst gibt er sich mit leblosen Plüschtieren zufrieden, die ihm als Gefährte in der Einöde dienen. Bald entdeckt er im Wald zufällig ein totes Liebespaar in einem laufenden Auto. Die Frau hat es ihm angetan und so nimmt Lester die Leiche mit - als Beute und gleichzeitig als "Frau" an seiner Seite. Lesters Wunsch, Teil der Gesellschaft zu sein, ein "normales" Leben zu führen, mit Heim und Partnerin, distanziert ihn paradoxerweise immer mehr von seinem Idealbild. Vielmehr führt sein Wunsch ihn dazu, ein gesuchter Serienmörder zu werden. Dabei ist Lesters Lebensdrang genauso rigoros, wie das Recht, das er sich herausnimmt, über das Leben und Sterben anderer zu entscheiden.
Verstörend sei der neue Franco-Wurf, meint die Presse. Nichts für den "durchschnittlichen Kinogänger". Sollte dies schon als Qualitätsmerkmal dienen, müsste ich mal kurz laut auflachen. Der Stoff ist keine Alltagskost, die darstellerische Leistung von Scott Haze, der den Lester in einzigartig authentischer Weise verkörpert, auch keine. Doch die Art und Weise, wie sich James Franco der Romanvorlage bedient, ist schmalspurig, ungenau, kraftlos, vorhersehbar. Keine Magie, dieses Mal, Mr. Franco?
Einiges darf man dem hünenhaften Barden ruhig zu Gute halten: erstens, eine exzellente Entscheidung bei der Wahl seines Haptdarstellers getroffen zu haben; zweitens, der Versuch, die "schwere" Kost mit feuchtfröhlichen Irish-Folk-Tönen und einigen witzigen Passagen erträglicher zu machen. Mehr als archaisches Geschrei, wilde Beschimpfungen und ein - bis zu einem gewissen Grad - mitleiderregenden, unglückseligen Kleingeist mit animalischen Gebärden wird man jedoch auch dadurch nicht aus dem seichten, trüben Gewässer des Franco-Ozeans fischen können. 


DIE FANTASTISCHE WELT VON OZ 
Wie aus einem Weiberhelden und Schwindler, ein Mann von Größe und aus einem Kinderbuchklassiker ein magisch-fulminantes, filmisches Spektakel wurde
Hereinspaziert, hereinspaziert meine Damen, meine Herren. Sie werden nun Zeuge eines einzigartigen, unvergesslichen und absolut phänomenalen Erlebnisses in 3 D - oder auch in 2 D - einer Reminiszenz an die Anfänge des Kinos, einer Hommage an die Geburtsstunde des Kinematographen, seiner Vorläufer und seiner Pioniere, wie Thomas Edison, William Dickson, den Brüdern Lumière und wer noch so alles an den wunderbaren Erfindungen beteiligt war, die uns die fantasievollsten Illusionen bescherten. Sie werden aber auch Zeuge eines genialen Wandels: Wie aus einem lustigen, ideenreichen und weltberühmten Kinderbuch aus dem Jahr 1900, in über vierzig Sprachen übersetzt und etliche Male verfilmt - u.a. die wohl bekannteste Verfilmung mit Judy Garland in der Hauptrolle - ein neuartiges, spannendes, in Staunen versetzendes Werk aus der Disneyschmiede wurde, welches die zahlreichen Motive aus Frank Baums Zauberwelt kreativ und höchst amüsant einzubinden weiß. Dahinter steht niemand geringerer als Sam Raimi, der schon mit seiner SPIDERMAN-Trilogie beweisen konnte, dass er ein Händchen für imposante Leinwandprojekte hat. Diesmal geht Raimi noch einen Schritt weiter: Dank seines Einfallsreichtum und der genialen Umsetzung seines Drehbuchduos Mitchell Kapner und David Lindsay-Abaire, geht der Regisseur der Frage nach, woher denn der beliebte Zauberer gekommen sein mag, der in Baums Roman "The Wonderful Wizard of Oz" erstmals erschienen ist. Somit ist DIE FANTASTISCHE WELT VON OZ der Prolog zu Baums Büchern und erzählt in der Vorgeschichte der bekannten Werke, wie aus dem moralisch betrachtet nicht lupenreinen Zirkusmagier Oscar Diggs, genannt Oz, ein wahrer Held wurde. Glücklicherweise fiel bei der Besetzung der Hauptrolle die Wahl auf James Franco, dessen Charme man sich nicht entziehen kann.
Am Anfang steht ein kleiner Schwindel in Herzensangelegenheiten. Diggs schwindelt nicht nur auf der Bühne, nein, er weiß auch die Frauen mit seinen Tricks (das rechte Wort zur rechten Zeit, eine schöne Spieluhr, die die Einzigartigkeit der Beschenkten ausdrücken soll) zu bezirzen. Doch irgendwo zwischen Zauberkunst und Gaunerei steckt auch ein einfühlsamer, ein gefühlvoller Mensch, der auch zur Empathie in der Lage ist. So knickt der große Zauberer Oz plötzlich sichtbar und nachvollziehbar  ein, als ein kleines Mädchen im Rollstuhl von ihm verlangt, er soll seinen Zauber auf sie wirken lassen, damit sie wieder laufen kann. Wenn er nur könnte! Enttäuscht zieht sich die Hilferufende zurück, das Publikum ist empört - und Oz? Er kann nicht lange über das Schicksal des Mädchens nachdenken, denn schon lauert die nächste Schwierigkeit auf ihn. Auf der Flucht vor einem eifersüchtigen Artisten wird Oscar vom grauen, staubigen Kansas in eine bunte, leuchtende Zauberwelt katapultiert. Hier wartet ein großes Abenteuer auf ihn, samt Fabelwesen, wie Flußelfen, geflügelten Affen, Munchkins und Hexen. Empfangen wird Oz als großer Heilbringer. Er selbst belehrt sie eines besseren: "Ich bin nicht der Zauberer, auf den ihr wartet". Aber im Verlauf der Ereignisse, zeigt sich, dass nur der Glaube an ihn zählt. Dass ein Mann von Größe in ihm steckt, jene Größe, die er sich sehnlichst gewünscht hat, die er nur nicht wahrgenommen, nicht ausgelebt hat. In Oz, wie die Zauberwelt bezeichnenderweise heißt, muss er Mut, Stärke und vor allem Zuverlässigkeit zeigen und bereit sein, eigene Interessen zugunsten anderer zurück zu stellen. Er wird auserkoren, die böse Hexe zu besiegen. Zunächst ist es die Aussicht auf Ruhm und Reichtum, die ihn motiviert, die von ihm geforderte Heldentat zu begehen. Doch dann sieht er sich, lernt er sich durch den Blick der anderen besser kennen und erkennt zugleich, dass auch Trugbilder, optische Täuschungen und Illusionen (manchmal auch nur ein wenig Klebstoff) Sinnvolles bewirken können. 
Er setzt all seine Kenntnisse der Magie und der Zaubertricks, aber auch technische Hilfsmittel und Errungenschaften des 19. Jh. - den Kinematographen, die Laterna Magica - ein, um seine Freunde, die ihm in der Umsetzung seines raffinierten Plans behilflich sind, zu retten. Edelmut und Cleverness triumphieren schließlich. Würdevoller könnte die Geburt des Kinos nicht dargestellt werden. 
Und was wird am Ende aus unserem Helden, dem Illusionisten, dem Hoffnungsträger? Er hat sich seine zweite Chance redlich verdient - diesmal wird er nicht nach einer Spieluhr zücken müssen ...



Freiheit schmeckt besser als Coke
Pablo Larraíns ¡NO! im aktuellen sozialen Kontext
FREE, so heisst das Erfrischungsgetränk, das René Saavedra dank seines Zauberspruchs gewinnbringend auf dem Markt positioniert: "Was sie in Folge sehen werden, befindet sich im aktuellen, sozialen Kontext Chiles". Die für die Achtziger neueste technische Errungenschaft - die Mikrowelle - Damenbekleidung, ja selbst die Demokratie ließe sich mit den Mitteln der Werbesprache verkaufen. Davon ist René überzeugt. Sein Spruch wird sich im Film noch zwei Mal wiederholen. Einmal nutzt er ihn, um den Oppositionellen die NO-Kampagne zu präsentieren. Und schließlich vernimmt man ihn am Ende des Films, bevor er den Kunden seinen neuen Werbefilm zeigt. Der Tonfall ist derselbe wie am Anfang und auch an der Situation scheint sich trotz erfolgreicher Kampagne und gewonnenem Referendum nicht viel verändert zu haben: Pinochet schüttelt im Fernsehen dem neuen Präsidenten, seinem Nachfolger die Hand. Sieht so ein guter Verlierer aus oder weiß der Mann, der Repression, Folter und vielfache Entführungen, Morde und Gewaltexzesse der Militärjunta zu verantworten hat, mehr als das sich nunmehr in Sicherheit wiegende Volk? Während seine Auftraggeber, Mitglieder jener Parteien, die Pinochets Regierungszeit endlich ein Ende setzen wollten, triumphieren und feiern, kann René noch nicht glauben, was passiert ist und fragt so auch die im Glück Taumelnden etwas irritiert, ob es denn wahr wäre: "Haben wir gewonnen?" Das ist zugleich auch Regisseur Pablo Larraíns Schlüsselszene in der Schauspieler Gael García Bernal sein Können nicht nur lapidar "unter Beweis stellt", er zieht uns emotional förmlich in den Sog. Hin-und-her gerissen zwischen der Freude, die er zwar mit seiner Kampagne stets propagiert hat, an die er aber - je gefährlicher die Situation für ihn und seine Familie wurde - immer weniger glauben wollte, und der tatsächlich sich entladen wollenden Erleichterung, der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, wie er sie den potentiellen Wählern prophezeit hat, bahnt er sich seinen Weg durch die Menge. Er, der stille Held, der auf die Kraft der Bilder, der Sprache, der Musik gesetzt hat, um Optimismus und Wille zur Veränderung an den Mann und die Frau jeglichen Alters zu bringen, sollte doch Recht bewahrt haben: Freude verkauft sich besser als Angst. Er geht als Sieger aus dem Kampf gegen seinen Arbeitgeber und Widersacher hervor und doch arbeiten sie am Ende wieder Seite an Seite. Parallelen zu Gegebenheiten in der Politik sind nicht rein zufällig. Larraín hat sich nicht umsonst als Fachmann in Sachen Militärdiktatur herauskristallisiert und zeigt, wie die Menschen damit umgehen, wenn die Politik ihren Alltag bestimmt: In TONY MANERO manifestiert sich der Einbruch in das Leben eines Einzelnen und die Flucht davor in Form des obsessiv-tanzenden Killers Raúl Peralta, während in POST MORTEM die Hauptfigur Mario Corneja, Angestellter eines Bestattungsunternehmen in Santiago de Chile, eigenmächtig ermittelt - beide Geschichten spielen zu Zeiten des Militärputsches in den 70ern. Und während sich Mario auf die Suche nach seiner verschwundenen Nachbarin, der Cabaret-Tänzerin Nancy begibt, macht sich nun René auf die Suche nach einem Weg, der immer abstruser werdenden Gegenkampagne, denen, die das Status Quo von Repression und Schreckensherrschaft mit einem "JA" beibehalten wollen, mit Witz und Humor, mit Intelligenz und Gefühl zu begegnen. "Wir müssen kreativ sein", appelliert der allein stehende Vater  an seine Mitstreiter. Und der Appell richtet sich nicht nur an seine Kollegen. Larraín lässt die Kreativität der Menschen, die sich tagein, tagaus mit der teils lebensbedrohlichen, teils einfach "nur" einengenden Situation arrangieren mussten, wieder aufleben. Er zeigt, unter welchen Bedingungen die Produktion, die Dreharbeiten und Besprechungen für eine politische Kampagne, die für die Machthaber nur dem Zweck dienen sollte, Demokratie vorzutäuschen, durchgeführt werden mussten. Seine persönliche und stilistisch einzigartige, an die technischen Möglichkeiten jener Zeit angelehnten Machart, bebildert nicht einfach nur die historischen Ereignisse, es ist der gelungene Blick in die Gedankenwelt, in die Träume und Wünsche jener Menschen, deren Erinnerungen wir mit dem Film teilen. 
Dabei bedient sich Larraín einmal mehr des Tanzes, der Musik und nostalgischer Gegenstände, wie die fahrende Modelleisenbahn, und bringt mit stechend-klarer Weisheit zu Tage, was sich in "herkömmlichen" (um nicht das vielbemühte "Mainstream-" oder "Hollywood-" als negatives Gegenbild zu gebrauchen) Filmen viel zu selten zu erkennen gibt: Pragmatischer Heldentum hat in der Geschichte der Menschheit viel öfter zum Erfolg geführt als der in Pathos getauchte Heldengeist. 



LIEBE
Georges und Anne sind um die 80, kultivierte Musikprofessoren im Ruhestand. Die Tochter, Eva, ebenfalls Musikerin, lebt mit ihrer Familie im Ausland. Früher war Anne selbst passionierte Pianistin und Klavierlehrerin, heute besucht sie das Konzert ihres talentierten Schülers, läßt die Musik auf sich wirken und blickt dabei innerlich auf ein erfülltes Leben zurück. Dann erleidet Anne einen Schlaganfall. Die Lähmung ist rechtsseitig. Sie bedarf totaler Hilfe. Soll sie ins Krankenhaus, ins Pflegeheim oder gar ins Altersheim? Für Georges, der seine Anne über alles liebt, kommen alle drei Alternativen nicht in Frage. Er kümmert sich selbst um sie, füttert und wäscht sie, gibt ihr physischen und seelischen Halt. Es kommen schwere Zeiten auf die beiden zu, Annes gesundheitlicher Zustand verschlechtert sich. Das kann Eva nicht länger mit ansehen. Sie möchte helfen, die Dinge ändern. Als schließlich Georges an seine Grenzen gerät und seine Frau einen zweiten Schlaganfall erleidet, ist es absehbar, dass es keine Hoffnung mehr für Anne gibt. Was wird nun aus den vielen Jahren, die sie miteinander verbracht haben, aus den vielen gemeinsamen Stunden, den Alltagsgeschichten, den kleinen und großen Ereignissen? Wie in einem luftleeren Raum sitzt Georges nun im Wohnzimmer des Hauses, während die Feuerwehr von außen versucht, die Eingangstür aufzubrechen.
Michael Hanekes Film LIEBE erfüllt keine Versprechen. Es geht nicht darum, das große Wort "Liebe" zu bebildern und hörbar zu machen - in den 127 Minuten vernimmt man so auch tatsächlich kein einziges Mal ein "Ich liebe Dich". Plakatives wird man hier nicht finden, statt dessen sind es die leisen Gesten, das was zwischen den Zeilen liegt, worauf die Aufmerksamkeit des Zuschauers gelenkt wird. Egal welche Terminologie man finden mag, ob es zärtliche Verbundenheit, rührende Fürsorge ist - Szene für Szene widerlegt der Film die Annahme, man könne begrifflich erfassen, was sich eigentlich nur erspüren lässt. Hanekes Film geht dabei konsequent seinen eigenen Weg. Den Spuren seiner Geschichte folgend, bringt er die schonungslose Wahrheit einer scheinbar ewig dauernden Liebe auf die Leinwand.
 


KNISTERN DER ZEIT - Christoph Schlingensief und sein Operndorf  in Burkina Faso 
"Die Wahrheit ist das Ganze" 
Burkina Faso - das raue, unberührte "Land der ehrenwerten Menschen", zugleich auch eines der ärmsten Länder der Welt. Wo wenn nicht hier sollte Christoph Schlingensief den idealen Ort finden, um seinen Traum vom "Operndorf" in Afrika wahr werden zu lassen? Die Regierung von Burkina Faso im Westen Afrikas hat vierzehn Hektar Land zur Realisierung des Operndorfes zur Verfügung gestellt. In der Nähe der Hauptstadt Ouagadougou, in Laongo, der Gemeinde von Ziniaré, grenzt das Operndorf an einen seit gut 20 Jahren bestehenden Skulpturenpark. Hier entsteht seit Januar 2010 das einzigartige Dorf mit einer Schule mit Film- und Musikklassen, Werkstätten und Lager, Wohn- und Gästehäusern, einer Kantine, Büros, Gastronomie, Siedlungen, einem Fußballplatz, Agrarflächen, einer Krankenstation und dem sogenannten Herzstück des Dorfes: einer Theaterbühne mit einem Festsaal sowie Proberäumen. Ein "Etappensieg" ist mit der Schuleröffnung im Jahr 2011 gelungen. Finanziell getragen wird das Projekt über Spenden. Maßgeblich an der Entstehung beteiligt war von Anfang an der renommierte Architekt Diébédo Francis Kéré und sind es die ortsansässigen Menschen. Unter Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse und Möglichkeiten sollte das Dorf experimentell entwickelt werden und wie ein Schneckenhaus von innen nach außen wachsen. Die ursprüngliche Idee Schlingensiefs in Afrika die kreative Ader zu erschließen, indem Kunst und Leben eine Symbiose bilden, war 2009 geboren. Als Christoph Schlingensief gemeinsam mit Francis Kéré die Steppe erkundete - begleitet von einem Filmteam unter der Regie von Sybille Dahrendorf - wurde diese Idee entscheidend weiterentwickelt.    
In ihrer Dokumentation erzählt Dahrendorf die Geschichte eines scheinbar unmöglichen Projekts und zeigt die Hürden, die der Künstler und seine Mitstreiter überwinden mussten. Schlingensief erlag im August 2010 seinem Krebsleiden. Sein Traum lebt weiter. Wie sein Traum in etwa ausgesehen haben könnte, davon berichtet die Dokumentation in Momentaufnahmen, in an Stilleben anmutenden Sequenzen. "Mein Traum ist, dass es anfängt zu leben", sagt Schlingensief während im Hintergrund die Savanne zu sehen ist, auf der die Bauarbeiten noch nicht begonnen haben. Wenn er im Film über seine Vision redet und über das Unverständnis der "Weißnasen", kommt er so richtig in Fahrt. Es ginge nicht darum, große Arien aufzuführen, nicht um das, was sich der kulturell interessierte Durchschnittseuropäer unter Oper vorstellt. Vielmehr soll sein Operndorf als Lebensraum, als ein Organ verstanden werden, in dem die Aufhebung der Trennung von Kunst und Nichtkunst sichtbar und erlebbar gemacht wird. Einer Schatztruhe gleich, die entdeckt und emporgehoben wird, die man erkunden kann.  
Ein Herzensanliegen war dem Initiator vor allem der Aspekt des Lernens und Sich-Ausprobieren-Dürfens. Vor allem jungen Menschen aus Burkina Faso sollte mit diesem Projekt die Gelegenheit gegeben werden, ihrer Experimentierfreudigkeit und Neugier freien Lauf zu lassen. Kunst in diesem neuen Milieu sollte etwas Unerwartetes sein und das Projekt als Prozess verstanden werden, von dem man nicht im Vorfeld weiß, wie er sich entwickelt und was er einem zurückgibt. Dabei war Schlingensief selbst wohl kein Freund von Willkür oder Ungenauigkeit. Man bekommt im Film hautnah mit, wie perfektionistisch, manchmal auch ungeduldig, er in seiner Schaffensphase war. Vielleicht ist auch deshalb Afrika der ideale Ort - hier traf er auf Menschen, die ihm mit viel Verständnis und Geduld begegneten. 
"Ich war ein sehr stilles Kind" schmunzelt er.
Erheiternd und entspannend sind besonders jene Augenblicke in KNISTERN DER ZEIT, in denen Christoph Schlingensief "profan" wirkt, einfach nur "Mensch" oder auch Kind ist und eben nicht das viel beschworene "enfant terrible", das er selbst als Stigmatisierung empfand, und das nicht viel mit seiner Person zu tun habe. Das ist auch das Gros von Sybille Dahrendorfs Dokumentation, dass sie sich nicht auf den ausgetretenen Pfaden der Medien begibt, sich an Oberflächigkeiten und Provokationen festhält, sondern eigene Wege bestreitet, um in erster Linie ein Künstlerprojekt zu porträtieren. Dass das Projekt unweigerlich mit ihm verbunden ist und demnach der Film Schlingensief'sche Luft atmet, ist der Natur der Sache geschuldet und wirkt in dem Fall nicht einengend, sondern öffnet den Blick für das Weite: seiner Vision. 
Als Teil seines Kunst(selbst)verständnisses - das Ausleben von Tabuzonen und Ausloten von Grenzen - hat er in Burkina Faso deren Defintion nicht etwa zu Ende gedacht, sondern erweitert. In Anlehnung an die Architektur seines Operndorfes, sollte "Kunst" als Sammelbegriff für alles Gelebte und gemeinsam Erlebte verstanden werden. Das Erbe, das Christoph Schlingensief hinterließ, war der Grundstein für eine Idee, die die Menschheit seit Anbeginn an mit sich trägt: Etwas zu erschaffen und sich darin zu verewigen.
"Es ist ein geheimnisvoller Ort. Es ist so toll, dieses Geheimnis jetzt langsam kennen zu lernen, und die anderen dann nachher mitzunehmen und ihnen wie ein kleiner Junge zu zeigen, wo der Schatz liegen könnte. Und der Schatz ist man selber. Und der Andere und das Ganze. Und das ist das, was ich mein Leben lang gesucht habe: Das Ganze ist der Schatz. Es ist nicht das Einzelne. Mag ein Teil auch missgestaltet sein: Die Wahrheit ist das Ganze."
 


SONS OF NORWAY
SONS OF NORWAY ist Norwegens Antwort auf "all die Scheiße in unserer Welt". Ihr fragt mich was genau? "Na, alles!" - würde Niko antworten. Niko - alias Nikolaj - ist ein Punk im Oslo der siebziger Jahre. Er war vor Kurzem noch ein anständiger, eher zurückhaltender Junge, dessen Eltern, allen voran der Vater, ihn und seinen jüngeren Bruder antiautoritär und liberal erzogen haben. Vater Magnus und Mutter Lone sind überzeugte Kommunisten und als solche feiern sie auch schon mal Weihnachten mit Bananen-Baumschmuck, Bananenpüree, Bananensoße auf dem traditionellen Weihnachtsbraten und singen statt "Jingle Bells" die Internationale. So weit so gut für den aufgeweckten Jungen. Doch alsbald kommt er mit den Sex Pistols und einem "echten Punk" in Berührung. Sein bester Freund und er sind total fasziniert von dieser ihnen bislang fremden Welt der "Gegen-alles-und-jeden"-Mentalität. No-Go-Areas werden so allmählich zu Abenteuerplätzen, die es zu erkunden gilt. Als Nikos Mutter tödlich verunglückt, identifiziert er sich voll und ganz mit der Punkszene. Seine auflehnende Haltung provoziert die Erwachsenen. Nachbarn, Schulleitung, Bekannte und Freunde  sind entsetzt. Schade nur, dass der Vater nicht mitspielen will und sich - statt sich über die plötzliche Wandlung des Sohnes aufzuregen - nach einer schwierigen Trauerzeit selbst an der Punkmusik ausprobiert und Niko sogar den Rang als größten Rebellen aller Zeiten abspenstig macht. Diese moderne Welt, die Magnus vielleicht auch als neues Ventil dient, nimmt ihn trotz der Generationenkluft sogar vorbehaltlos auf. Dem armen Niko bleibt nichts weiter übrig, als zu immer drastischeren Mitteln zu greifen, um die Aufmerksamkeit des Vaters auf sich zu lenken. Denn eigentlich, das müsste jedem Außenstehenden klar sein, geht es ihm doch nur darum, zu zeigen, dass er auch noch da ist, dass auch er unter dem plötzlichen Verlust seiner Mutter und dem Zusammenbruch der Familie leidet. So stößt er bald an seine eigenen Grenzen, riskiert sein Leben, um schließlich herauszufinden, dass "Freiheit scheiße ist und Scheiße Freiheit bedeutet". Oder um es in Nietzsches Worten zu sagen: "Da blendete und verwirrte ihn das unbekannte Licht, das Reich der Freiheit". 
SONS OF NORWAY von Jens Lien ist ein Film, bei dem man sich köstlich amüsieren kann, herzhaft lachen kann und dennoch viel mitnimmt; der einen auf pubertierende Phasen der Zöglinge bestens vorbereitet - besser, als jegliche Ratgeber es vermögen. Und gleichzeitig ist es ein Film, der den Blick auf unsere eigene Wahrnehmung der Welt und der Menschheit, auf uns selbst lenkt und so mögliche Lebenslügen aufdeckt. Der aber auch Außenseitertum und Rebellion im kleinbürgerlichen Vorstadtmief auf die Spitze treibt - und das mit typisch trockenem skandinavischen Humor: So kehrt Sohn Niko von seiner von Drogenkonsum begleiteten Bandprobe nach Hause zurück und wird von dem Vater in ein Geheimnis eingeweiht, hinter das dieser selbst gerade gekommen ist: Der geheime Plan der Gemeinde. Alle Wege führen zum Kapitalismus - dem großen Feind, der nichts anderes ist als versteckter Kannibalismus. Niko, nicht ganz bei Sinnen, schreit als logische Konsequenz aus der von seinem Vater vernommenen Verschwörungstheorie aus dem Fenster: "Ihr werdet alle aufgefressen, jeden Tag!" 
Besser kann man doch der 68er Generation ihre eigenen Unzulänglichkeiten nicht vor Augen führen. Und gleichzeitig kann es keine bessere, rührendere Vater-Sohn-Geschichte geben. Wem dies alles noch keinen Kinobesuch wert ist: Es gibt auch einen Gastauftritt von Johnny Rotten!
 


Ein Tag auf der Erde - ONE DAY ON EARTH
Atemberaubende, faszinierende Aufnahmen und die bunte Vielfalt unseres Planeten, festgehalten auf Dokumentarfilmlänge. Das Ergebnis eines im Jahr 2008 entstandenen, weltweiten Filmprojektes, das am 10.10.2010 realisiert wurde, war hierzulande neben den Spielorten Hamburg, Berlin und Nürnberg im Subiaco Kino im Kloster, in Alpirsbach zu sehen. ONE DAY ON EARTH, ein Grassroot Filmprojekt, wurde in über 160 Ländern am "Tag der Erde", den 22. April 2012 kostenlos vorgeführt. Daneben wurde der Film auch auf der Webseite www.onedayonearth.org ausgestrahlt. Der Dokumentarfilm zeigt in beeindruckenden Bildern die Arbeit von über 19.000 ehrenamtlichen Filmemachern - Hobbyfilmern, Filmstudenten und Profis - und setzte zugleich einen Weltrekord: ONE DAY ON EARTH war mit über 3000 Stunden Filmmaterial der einzige Film, der Beiträge aller Herren Länder vereint, die an ein und demselben Tag aufgenommen wurden.  
Gegründet wurde das Projekt ONE DAY ON EARTH im Jahr 2008. Die Zusammenarbeit von Filmschaffenden aller Nationen, die erste Filmproduktion, die an allen Orten der Welt zeitgleich stattfand, war ein regelrechtes Mammutprojekt: Dokumentarfilmer, Filmstudenten und andere inspirierte Erdenbürger nahmen quer über den Globus die Kamera in die Hand und drehten 24 Stunden lang. Ihre Beteiligung und die namhafter Organisationen, wie WWF, Unicef, ICRC (Internationales Rotes Kreuz), UNwomen und UNaids ist es zu verdanken, dass die Welt an dieser einzigartigen Weltpremiere teilhaben durfte. 
Kyle Ruddick ist der Gründer und Regisseur von ONE DAY ON EARTH. Bevor er das Projekt ins Leben rief, gründete Ruddick eine mehrfach ausgezeichnete Kreativ-Agentur, die EYESTORM PRODUCTIONS und arbeitete für Lucasfilm im Dokumantarbereich. Sein Kompagnon und Produzent Brandon Litman hat die Kontakte zu den renommierten Filmpartner, den Organisationen und Geldgebern hergestellt. Nach einer Schnittzeit von über 16 Monaten waren die Mitwirkenden - bekannte und bislang unbekannte Regisseure, wie Jonathan Sterkenburg, James Travis und Nita Deda, sowie berühmte Musiker, wie Paul Simon, Sigur Ros, DJ Cut Chemist - sehr stolz auf das Ergebnis, das jedem Menschen zugänglich gemacht werden sollte. Die Idee dahinter war es, außerhalb wirtschaftlicher und politischer Interessen, Globalisierung mal anders zu denken: Es geht um die Menschen auf dem Planeten, ihren Schicksalen und Ereignissen wie Geburt und Tod. An einem Tag wie jeder andere werden Träume wahr, stürzen Häuser ein, nehmen wir Anteil an Freud und Leid. 
EIN TAG AUF DER ERDE - ONE DAY ON EARTH - das weltweit gemeinschaftliche Filmprojekt, das an einem einzigen Tag, am 10. Oktober 2010 gedreht und am 11.11.2011 fortgeführt wurde, ist das bislang einzige, mir bekannte, globale Filmwerk mit einer internationalen Vorführung. Auch als Zuschauer und Zuschauerin ist man - trotz kritischer Aspekte, wie Umwelt-schäden und Kriege - stolz, Teil dieser bunten Welt zu sein, die so viel Schönheit ausstrahlt, auf der "so viele, unterschiedliche Kulturen leben, so viele Völker und Nationen, die so viele verschiedene Gedanken, Meinungen und Emotionen haben, die miteinander verwoben sind" (Dalai Lama).
 


Das Schicksal eines Vagabunden
Hermine Huntgeburths TOM SAWYER
Wer kennt sie nicht, "Die Abenteuer des Tom Sawyer" und seines landstreichenden Freundes Huckleberry Finn? Einst las man noch Mark Twains Roman und ließ sich, von der eigenen Fantasie geleitet, Seite für Seite in den Bann der geschriebenen Wörter ziehen. Alle Verfilmungen, die ich danach gesehen habe, waren zwar recht unterhaltsam, kamen jedoch nicht im Entferntesten an meine Vorstellungen heran. Und nun das: Ein überaus bewegender, zugegebenermaßen etwas brutaler (die FSK-Angabe ist mit 6 Jahren möglicherweise doch etwas großzügig erfolgt), aber auch rührender, absolut spannender, die einzelnen Episoden in genialer Weise verknüpfender, überraschend authentischer Film von Hermine Huntgeburth - Garantin für gelungene Kinderbuchverfilmungen (u.a. BIBI BLOCKSBERG) - und des Produzenten Boris Schönfelder (NORDWAND), der mit seiner ersten Kinderfilmproduktion gleich einen "Hammerwurf" abgelegt hat, zeigte sich einem altersgemischten Publikum im hiesigen Kino. 
Zu verdanken hat Schönfelder den Erfolg seines Erstlingswerk nicht nur der versierten Regisseurin, deren Verdienst es auch wieder in ihrem neuen Film ist, sich an die Lebenswelt der Kinder zu orientieren und dabei der Romanvorlage bis ins Detail treu zu bleiben, sondern in beachtlichem Maße auch der schauspielerischen Leistung der Jungdarsteller Louis Hofmann als Tom Sawyer, Leon Seidel als Huck Finn und Magali Greif als Becky. Und eines brillanten Joachim Króls. 
Król mimt in TOM SAWYER den etwas naiven Trunkenbold Muff Potter, den man leicht hinters Licht führen kann. In seiner einerseits vom Alkoholkonsum herrührenden, andererseits wesenhaften Einfältigkeit, kann ihm der listige Tom sogar weismachen, dass er das Jenseits erreicht hat und seine Seele nur dann Frieden findet, wenn Muff diese mittels eines Pennys freikauft. Der ängstliche, verwirrte Muff überlegt nicht lange und gibt, was von ihm verlangt wird. Toms Show, die ihm wiederum die Anerkennung seiner reichen Schulkameraden und einige Münzen einbringt, ist für den Jungen nicht weiter von Bedeutung. Und es könnte auch vom Zuschauer als Lausbubenstreich ohne weitreichende Folgen abgehakt werden. Wenn sich der zunächst harmlos scheinende Streich nicht zum Nachteil des alternden Vagabunden auswirken würde: Erst wird ihm vorgegaukelt, dass er gestorben sei - später wird ihm ein Mord in die Schuhe geschoben. Daraufhin soll Muff Potter gehängt werden. 
Viel hat Potter vom Stummfilmklassiker THE TRAMP und es ist gewiss kein Zufall, dass er auch äußerlich Ähnlichkeiten mit Chaplins Landstreicher aufweist: Hut, übergroße Jacke, Weste, schlabbrige Hose. Und dazu noch der herzerweichende Blick. Wer würde ihm nicht ein Stück seines Brotes abgeben? Und wer würde letztlich nicht seine Freundschaft und sogar sein Leben aufs Spiel setzen, um dessen Leben zu retten? "Wir schwören, dass wir niemandem etwas davon erzählen, oder wir fallen tot um und verfaulen", fordert Huckleberry Finn seinen Freund Tom eindringlich auf, zu versprechen. Gerade er, ein Waisenkind ohne Zuhause, sollte doch Mitleid mit dem alternden Muff haben. Und doch ist er es, der sich am liebsten aus dem Staub machen würde, um ja nicht in die Fänge des skrupellosen, Furcht einflößenden Indianer Joe zu geraten. Was Tom wohl ahnt, weil er seinen Freund besser kennt als jeder andere, ist dass Huck Muffs Schicksal nicht einerlei ist. Vielleicht erkennt Huck in dem Vagabunden, für den sich scheinbar niemand interessiert, den niemanden vermissen würde, sogar ein Stück weit sich selbst. Tom sieht es jedoch anders: Er ist nicht nur dem trotteligen, alten Landstreicher noch etwas schuldig, weil er ihn so erschreckt und sich auf seine Kosten amüsiert hat, und er weiß nicht nur, dass er es sich nie verzeihen würde, wenn er die Chance, ihn zu retten, nicht beim Schopfe packen würde. Tom ist sich auch einer Sache bewusst, die Huck offensichtlich ausblendet: Muff würde eine Lücke bei seinen Mitmenschen hinterlassen, sogar eine enorme. Denn jeder hat seinen Platz auf dieser Welt. Auch Huck. Nicht nur im Roman, in Toms Leben. Nein, auch auf der Leinwand. 
So folgt im Dezember 2012 die Fortsetzung mit dem bezeichnenden Titel HUCK FINN. Wir dürfen gespannt sein auf das nächste Abenteuer der beiden berühmten Freunde, die sich von nichts und niemanden aufhalten lassen. Der Mississippi lockt, die Freiheit ruft!
 


GOOD FOOD, BAD FOOD - ANLEITUNG FÜR EINE BESSERE FILMKUNST oder WIE MAN EINEN FILM BESSER NICHT DREHEN SOLLTE
Selten habe ich direkt nach dem Kino- bzw. nach dem Filmerlebnis das Bedürfnis, sofort darüber zu schreiben. Es passiert ausschließlich dann, wenn der Film außergewöhnlich gut oder äußerst schlecht war. Leider trifft in dem Fall eher letzteres Urteil auf den sichtbar engagierten Dokumentarfilm von ST. JACQUES-Regisseurin Coline Serreau: GOOD FOOD, BAD FOOD - ANLEITUNG FÜR EINE BESSERE LANDWIRTSCHAFT. Nach nur ein paar Sequenzen erinnerte mich die Kameraführung an meine eigenen ersten, zarten Versuche als Kamerafrau und Regisseurin - und selbst die waren um einiges strukturierter, "ruhiger" und schlüssiger als ihre durchweg willkürlich wirkende Schnittfolge. Man kann hier nicht wirklich von Montage sprechen. Vielmehr serviert Serreau ihren durchaus interessanten Diskurs als aggressive, persistente Aneinanderreihung von Monologen, in dem sie zudem nur jene Experten, Öko-Pioniere, Wirtschafts-philosophen, Umwelt- und Ernähr-ungswissenschaftler, Landwirte, Verbandsmitglieder usw. zu Wort kommen lässt, die der industriellen Landwirtschaft und ihren Akteuren ohnehin sehr kritisch gegenüberstehen. Neben ihrem mangelhaften Filmstil, der sich in einem beliebigen Schnitt, der Demontage, dem Fehlen gestalterischer Intelligenz und Disharmonie von Bild und Ton erkennbar macht ist es daher auch die undifferenzierte Haltung, die den Zuschauer das Interesse an Gesagtem verlieren lässt. Da hilft es auch nicht, dass sie mit Wiederholung und Dopplung arbeitet, und das stets im gleichen Tenor. Gleichzeitig, und das ist das dritte Manko, wird dem Dokumentarfilm eine feministische Sichtweise angeheftet, die am Thema vorbei zielt. "Mutter Erde ist Mutter Erde und man(n) sollte sie respektieren und schützen" lautet verkürzt dargestellt die Botschaft. Damit ist aber nicht genug. Es wird von den Zwangsabtreibungen in Indien gesprochen, vom Ausbeuten weiblicher Arbeitskraft. Ja, diesen gesellschaftlichen Schief-lagen sollte durchaus auch Beachtung geschenkt werden. Doch warum in diesem Kontext, in diesem Film? Und ob eine "weibliche" Landwirtschaft gleich die bessere ist, erschließt sich mir aus dieser Kritik an der männlichen Welt nicht. Das ist schlichtweg eine Behauptung, die man mit persönlichen Beispielen widerlegen kann: Mein Großvater hat Zeit seines Lebens in einem kleinen kalabrischen Dorf auf dem Land gearbeitet; er war es, der seinen Nachfolgern die Erde, die er pflegte und hegte, übergab und sie ermahnte, den respektvollen Umgang fortzuführen. Er war es, der uns Enkelkindern über die Eigenschaften der Pflanzen und dem Kreislauf der Natur zu berichten wusste. Er tat das auf typisch süditalienischer Art und Weise, mit Humor und Tiefgang. Seine Lebensphilosophie war tief mit der Arbeit auf seinem Stückchen Land verwurzelt. Und so wie er, gibt es auch andere Bauern und Bäuerinnen. Ich finde es uneffektiv und ermüdend, der Sichtweise Serreaus darin zu folgen; auch hätte ich mir stattdessen einige Interviews mit den Konzernen, die genmanipuliertes Saatgut produzieren und liefern, gewünscht. Eigentlich ist es ein inhaltliches und künstlerisches Verschulden, wenn eine Dokumentarfilmerin diese Gegenüberstellung auslässt. Auch keine sichtlichen Versuche und Anstrengungen unternimmt, um wenigstens ein, zwei Gegenstimmen einzufangen. Fazit: Viel nützliches, verwertbares Material, viele Statements, die keiner erkennbaren, inneren Logik folgend, zusammengewürfelt werden, wacklige Einstellungen und Sequenzen, die eher irritieren, als dass sie dem Film in irgendeiner Art und Weise dienen könnten. "Die Erde ist freundlich, warum wir eigentlich nicht?" singt Herbert Grönemeyer. Frau Serreau, warum sind Sie es eigentlich nicht?
 


DIE EINSAMKEIT DER PRIMZAHLEN 
Die berühmte Parabel der Königskinder, die nicht zueinander kommen können - in Saverio Costanzos Verfilmung von Paolo Giordanos gleichnamigem Roman findet sie zu ihrem emotionalen Höhepunkt. Der Bezug zur höheren Mathematik stellt sich über dessen Protagonisten, Mattia Balossini her. Er erforscht Primzahlzwillinge - Zahlen, deren Eigenschaft darin besteht, dass zwischen ihnen immer eine gerade Zahl steht. Diese Trennung vollzieht sich in der Kindheit, als Mattia seine Zwillingsschwester Michela zurücklässt, um ein Mal ein unbeschwerter Junge sein zu dürfen und zieht sich im Laufe seines Lebens fort, als er Alice della Rocca kennenlernt. Ein Paar, das wie geschaffen ist füreinander; zwei Menschen, deren Schicksale so schmerzlich erfahren werden, das nur der andere Linderung geben kann - wenn es welche gibt. Aber auch das lässt Giordanos überwältigend berührende Geschichte nicht zu: Die Erlösung des Leids durch gegenseitigen Trost; die Liebe, die über alles Verlebte siegt - es bleibt Mattia und Michela und mit ihnen auch dem Publikum verwehrt. Stattdessen entzieht sich Mattia Michelas Rettungsversuchen, obwohl es ihm in ihrer Gegenwart gelingt, "ein normaler Mensch zu sein". Dennoch oder gerade deshalb ist Costanzos DIE EINSAMKEIT DER PRIMZAHLEN ein stimmiges Bild einer desillusionierten aber nicht hoffnungslosen Jugend gelungen. Wobei die Ehre weniger dem Regisseur als vielmehr dem damals noch 25jährigen Autor und Physiker zuteil werden sollte (und auch wurde). Sein Debütroman erreichte in weniger als einem Jahr eine Auflage von über einer Million und heimste die begehrtesten Literaturpreise Italiens ein.  
Und so wie seine Protagonisten, still die erlittenen Wunden ertragend, sich schweigend gegenüberstehen, so sitzt der Zuschauer und die Zuschauerin stumm staunend vor diesem Leinwandwerk, das mit wenigen Mitteln auskommt, um das unbeschreibliche  Gefühl von Verlust und Einsamkeit, von Sinnsuche und Halt darzustellen. 
 

 
DER DIEB DES LICHTS
Ein Robin Hood, der anstelle von Gold und Juwelen zu erbeuten, die Stromversorgungsunternehmen bestiehlt, um den Armen zu helfen. Wer dahinter steckt? Der "Lichtmann", Svet-Ake, der mit seiner Frau und seinen vier Töchtern in einem kirgisischen Dorf lebt. Er ist der örtliche Elektriker. Seine Arbeit wird in der postsowjetischen Zeit zur Mission, er selbst zum Helden: Da sich kaum jemand den übermäßig teuren Strom leisten kann, die Menschen aber auf diesen angewiesen sind, manipuliert Svet-Ake kurzerhand deren Stromzähler und lässt sie rückwärts laufen. Während da draußen ein gesellschaftspolitischer Sturm tobt, sich scheinbar das ganze Land in Umbruchstimmung befindet, interessiert die Menschen im Dorf eigentlich nur, wie sie über die Runden kommen sollen. Der Kampf ums nackte Überleben in der rauen Wildnis der kirgisischen Landschaft findet zunächst auf unmerkliche, unspektakuläre Weise statt. Man arrangiert sich oder agiert in eigener Manier. So auch Svet-Ake: Während ihm die Entlassung droht, bastelt er weiter an seinem selbsterbauten Windgenerator, der hinter seinem Haus steht. 
Sein großer Traum ist es, einen Windpark zu bauen, der die ganze Region unabhängig von den privatisierten und profitgierigen Stromkonzernen versorgen würde. Wenn er seinen Mitmenschen, wie seinem Freund Mansur, davon erzählt, stößt er damit für gewöhnlich auf taube Ohren. Einzig Mansurs Cousin Bekzat ist von seiner Idee sehr angetan. Er erhofft sich davon mehr Stimmen bei der nächsten Wahl, möchte sich an die Spitze der Dorfgemeinschaft stellen und die Macht über Land und Leute an sich reissen. 
Im Gegensatz zu Bekzat ist Svet-Ake ein sehr gutmütiger Idealist, der das Herz am rechten Fleck trägt. Er weiß, dass ein richtiger Windpark das Leben der Dorfbewohner entscheidend verändern würde. Daher lässt er sich zunächst von Bekzat einladen, als dieser chinesische Financiers in Empfang nimmt und sie mit Wein und Weib bei Laune hält. Svet-Akes Welt ist das wahrlich nicht. Viel lieber klettert er mit dem Nachbarsjungen auf einem Baum, um den Mond zu betrachten. Der Mond indes spielt in Akten Arym Kubats Film eine außerordentlich wichtige Rolle. Er hält jenes Attribut in sich, das der "Lichtmann" - dargestellt vom vielfach ausgezeichneten Filmemacher selbst - vergeblich bei seinen Mitmenschen sucht und demnach bitter enttäuscht wird, wenn er es nicht findet: Das eigene Licht durchschimmern lassen und vor Glück strahlen, nicht vor Reichtum. 
Indes findet er Argwohn, List, Vertrauensbruch und Käuflichkeit. Da geht dem Lichtmann förmlich ein Licht aus. Er begehrt auf und wird auf sehr drastische Art und Weise dafür bestraft. 
Akten Arym Kubat beschäftigt sich nach seiner biografischen Trilogie aus MAIMIL/THE CHIMP (aus dem Jahr 2001), BESHKEMPIR (DER FREMDE SOHN) 1998 und SEL'KINCEK (SWING, 1993) nun mit den ökonomischen Verhältnissen des Landes. Sein in poetischen Bildern in Szene gesetzter Film DER DIEB DES LICHTS handelt von der Machtbesessenheit der Energieversorgungsunternehmen, von den absurden Situationen, die nach dem Zerfall der Sowjetunion in den einzelnen Republiken herrschten. Jenem entgegen stellt er - wie er es selbst ausdrückt - einen "ungestümen Elektriker, der ein großes Herz hat, der in den Alltag dieses Dörfchens nicht nur das elektrische Licht, das häufig ausfällt, sondern auch das Licht der Liebe, der Treue, des Lebens und vor allem des Lachens bringt". 
  


THE TREE  
"Dieser Baum ist kein Baum - er ist ein Oktopus!" beschwert sich die Nachbarin. Für Simone ist der Baum das Heiligste, das sie in ihrem bisherigen Leben kennt. Denn in ihm wohnt, davon ist die Achtjährige überzeugt, der Geist ihres verstorbenen Vaters weiter. Dawn, ihre Mutter, sieht sich im inneren Zwiespalt - zum einen möchte sie ihrer Tochter gerne glauben und folgt ihr, besteigt den Mammutbaum in der Nacht, schläft zusammengekauert zwischen den Wurzeln und lässt sich zunächst auch nicht von einstürzenden Ästen beeindrucken. Doch auf der anderen Seite rüttelt die Vernunft an ihr, lässt sie die Dinge von einem anderen Blickwinkel aus betrachten. Aus der Sicht der Erwachsenenwelt eben, die weniger reich an Phantasie und Vorstellungskraft ist, weniger romantisch und auch wenig hoffnungsvoll. So droht dem imposanten Gewächs auch bald das Aus, als die Wurzeln die Rohre des Hauses zerstören und die Überwucherung am Baum und am Gebäude unzumutbare Dimensionen annimmt. George, der Klempner und Retter in der Not, der auch spontan zu Dawns Arbeitgeber wird, investiert nicht nur Arbeitszeit sondern auch Gefühle für seine neue Angestellte und sieht in dem Naturphänomen eine lebensgefährliche Bedrohung für die Familie. Während Simones Brüder sich mit der Situation gut abzufinden scheinen, übertritt George mit seiner wohlgemeinten Intervention für die Kleine eine emotionale Grenze. Sie sieht sich alleine an der Front kämpfend, für den Baum, der abgesägt werden soll, für die Ehre ihrer Mutter, für den Zusammenhalt ihrer Familie und insbesondere für die Wahrung der Erinnerung an ihren geliebten Dad.  
Mit THE TREE, der Verfilmung von Judy Pascoes Bestseller, ist Julie Bertuccelli ein rührendes, bewegendes und einfühlsames Meisterstück gelungen. Neben der leinwanderprobten Charlotte Gainsbourg glänzt Morgana Davies als Töchterchen Simone und gibt - unterstützt von ihren Schauspielkollegen Marton Csokas, Christian Byers, Tom Russell und Gabriel Gotting - dem Film die nötige Authentizität inmitten einer magisch-archaischen wie auch bedrohlichen Landschaft.
 

Copyright:
Texte: Alejandra M. Falcone
Filmbilder: Verleih, Produktion