Die KINOTANTE im April

"Eines Tages wollte mich Henning ins Kino einladen und fragte, wie oft ich früher in Syrien ins Kino gegangen sei. "Nie", antwortete ich, "ich war in meinem ganzen Leben noch nie im Kino." Er war bass erstaunt! Wahrscheinlich dachte er bei sich: "Was ist denn das für ein Leben, wenn man keine Filme schaut?" Tatsächlich weiß er nicht, dass ich unglaublich viele Filme gesehen habe, vielleicht mehr als er. Ich kenne alles: HARRY POTTER, HERR DER RINGE, GLADIATOR. 300 ist einer meiner Lieblingsfilme. In Syrien sah ich gern amerikanische Filme, aber nicht im Kino, sondern im Fernsehen. Ebenso indische und chinesische Filme. Aber wo ich herkomme, gibt es diese Tradition, ins Kino zu gehen, nicht. Es gibt zwar auch in Syrien Kinosäle, aber nur eine kleine Minderheit schaut Filme im Kino, Intellektuelle und Schriftsteller etwa, in den großen Städten wie Damaskus und Aleppo. Ich jedenfalls war niemals dort. Als Student musste ich mit meinem Geld haushalten. Für den Preis eines Kinotickets konnte ich mir zum Beispiel das Skript für eine Vorlesung oder ein wichtiges Buch für die Uni kaufen. Seit ich in Deutschland bin, wurde ich nun schon mehrmals ins Kino oder ins Theater eingeladen. Zum ersten Mal in meinem Leben ging ich mit Henning ins Kino. Es war ein seltsames Gefühl. Auf dem Weg stellte ich mir vor, wie es wohl sein würde. Ob es eine große Leinwand gäbe wie in den Kinos, die ich aus den Filmen kannte. Ob viele Zuschauer dort sein würden und, und, und ...

Wir sahen dann THE REVENANT mit Leonardo DiCaprio, ein sehr blutiger Western. Ich war tatsächlich überrascht, dass die große Leinwand und die starken Lautsprecher einem das Gefühl vermitteln, man erlebe die Ereignisse des Films hautnah mit.  Dann geschah, was ich befürchtet hatte: Henning machte sich Sorgen um mich, denn im Film ging es höchst brutal zu. Der Arme befürchtete, diese Szenen würden mich an die Situation in Syrien erinnern. Aber es waren normale Filmszenen, ganz im Gegensatz zu dem, was ich in Syrien mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört habe, Szenen, die noch immer in meiner Vorstellung weiterleben. Ich wollte ihn beruhigen und sagte: "Mach dir keine Sorgen, der Film gefällt mir sehr gut." Abgesehen von den blutigen Szenen, gab es auch herrliche Naturaufnahmen. Ich erzählte Henning später, dass ich auf meiner Flucht durch Europa ganz ähnliche Landschaften durchquert hatte wie Leonardo DiCaprio im Film, in Mazedonien etwa. Ich mochte das Kino. Auf dem Nachhauseweg beschlossen wir, einmal im Monat ins Kino zu gehen."

Aus: "Unter einem Dach: Ein Syrer und ein Deutscher erzählen" - Amir Baitar und Henning Sußebach 

Das Thema dieser ersten April-Ausgabe, die am 12. April um 19 Uhr ausgestrahlt wird, ist, wie man unschwer erkennen kann, das syrische Kino von den Anfängen bis zum Ausbruch des Kriegs und einige Werke, die während der Konflikte entstanden sind. Dabei werden auch aktuelle Filme besprochen, die derzeit im Kino zu sehen sind und in naher Zukunft in den Lichtspielhäusern gezeigt werden, beispielsweise INSYRIATED, DIE LETZEN MÄNNER VON ALEPPO, sowie andere europäische und internationale Leinwandproduktionen.